Politologe ordnet ein«Cassis hat recht wenig zu verlieren»
Von Alex Rudolf
8.12.2021
Der Sitz des Bundespräsidenten Ignazio Cassis dürfte bei den nächsten Wahlen wackeln: Woran das liegt und ob sich der Tessiner im Amt profilieren können wird – der Politologe Nenad Stojanovic ordnet ein.
Von Alex Rudolf
08.12.2021, 18:17
08.12.2021, 22:27
Alex Rudolf
Nenad Stojanovic, Bundesrat Ignazio Cassis wurde heute mit 156 Stimmen zum neuen Bundespräsidenten gewählt – das schlechteste Ergebnis seit Ueli Maurers Wahl 2013. Was lesen Sie daraus?
Diese Zahl hat keine sehr grosse Bedeutung. Die Entscheidung, ob jemand zum Bundespräsidenten gewählt wird, fällt das Parlament. Schafft ein Kandidat das absolute Mehr, das hat Cassis spielend erreicht, ist er oder sie gewählt. Der Anteil Nein-Stimmen ist nicht wichtig.
Die Wahl verliert jedoch an Glanz, wenn man an die guten Resultate der letzten Jahre denkt.
Nenad Stojanovic
Der Tessiner Politologe Nenad Stojanovic hat nach Lehraufträgen an den Universitäten Zürich und Luzern eine Förderprofessur des Schweizerischen Nationalfonds an der Universität Genf. (aka)
Das kann man so sehen. Über die Gründe für dieses Ergebnis kann man nur spekulieren, denn die Wahl ist geheim. Viele Linke werden ihm die Stimme wohl nicht gegeben haben, weil sie mit seiner Europa-Politik nicht einverstanden sind. Dass Bundespräsidenten bei ihrer Wahl abgestraft werden, ist aber auch üblich und gehört hier in der Schweiz zum politischen Prozess. Micheline Calmy-Rey erhielt jeweils fast keine Stimmen aus der SVP.
Grüne und Grünliberale haben offenkundig ein Auge auf einen der beiden FDP-Bundesratssitze geworfen. Ist dieses Wahlergebnis ein Warnschuss für Cassis?
Kein Warnschuss, aber unabhängig von der heutigen Wahl ist klar, dass der zweite FDP-Sitz angegriffen werden wird. Von den Parteistärken her sind die Freisinnigen heute auch klar übervertreten. Falls nach den Gesamterneuerungswahlen in zwei Jahren wieder ein Angriff kommt, dann ist Cassis eher gefährdet als Karin Keller-Sutter.
Keller-Sutter geniesst einfach mehr Unterstützung im Parlament, von der Mitte-Fraktion über die Grünen bis weit in die SP hinein. Ausserdem wird sich das Parlament davor hüten, eine Frau abzuwählen.
Zurück zu Cassis’ Präsidialjahr: Wird er sich wie Guy Parmelin im Amt profilieren können?
Cassis hat recht wenig zu verlieren. Glaubt man den Umfragewerten und Stimmungsbarometern im Parlament, ist er kein sehr beliebter Politiker. Er sollte die Chance ergreifen, um an Kontur zu gewinnen, und somit mehr Sympathien kriegen. Im persönlichen Umgang ist er eine sehr sympathische Person. Seine Strategie, sein Präsidialjahr zum Thema «Innerer Zusammenhalt der Schweiz» zu stellen, ist klug.
Ist das nicht paradox? Immerhin ist er Aussenminister und muss die Schweiz international vertreten.
Eben nicht. In seiner Funktion als Aussenminister reist er regelmässig und nimmt an vielen prestigeträchtigen Anlässen im Ausland teil. Steht ein Bundesrat einem anderen Departement vor, ist diese Option verlockend, da es wirklich etwas Spezielles ist. Cassis braucht dieses Prestige nicht und legt seinen Fokus auf die Schweiz, das finde ich sehr gut.
Wie wichtig ist es für das Tessin, dass seit Flavio Cotti 1998 erstmals wieder ein Tessiner dem Bundesrat vorsteht?
Diese symbolische Bedeutung darf man nicht unterschätzen: Die italienische Schweiz hat schon sehr lange auf ihren ersten Bundespräsidenten warten müssen. Erst 1915 kam der erste Präsident aus dem Tessin, nachdem der Schweizer Bundesstaat schon 67 Jahre bestanden hatte.
Der frischgewählte Bundespräsident appelliert an den Zusammenhalt
Aussenminister Ignazio Cassis ist von der vereinigten Bundesversammlung zum Bundespräsidenten für das Jahr 2022 gewählt worden. In seiner Rede appellierte er an den Zusammenhalt der Bevölkerung. «Wir lassen uns durch Corona nicht spalten.»