Polit-Analyst über Ständeratswahl«Der Anti-SVP-Reflex spielt bis weit ins bürgerliche Lager»
Von Stefan Michel
20.11.2023
Die letzten freien Sitze im Ständerat brachten der SVP eine Reihe von Niedrlagen ein. Polit-Analyst Mark Balsiger sieht bei der FDP aber noch mehr Grund, über die Bücher zu gehen.
Von Stefan Michel
20.11.2023, 00:00
20.11.2023, 10:04
Von Stefan Michel
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Die SVP war die Siegerin der Nationalratswahlen 2023.
Die zweiten Wahlgänge für die letzten sechs Sitze im Ständerat brachten der SVP aber eine Serie von Niederlagen ein.
Polit-Analyst Mark Balsiger ist vor allem vom Ergebnis in der SVP-Hochburg Aargau überrascht.
Der FDP empfiehlt er mehr Selbstbewusstsein, um eigene Kandidaturen aufzubauen.
Herr Balsiger, was hat Sie an diesem Wahlsonntag am meisten überrascht?
Das Ergebnis im Kanton Aargau. 42 Prozent haben im ersten Wahlgang den Namen von Benjamin Giezendanner auf ihren Zettel geschrieben. Ein Drittel der Wahlberechtigten in diesem Kanton wählen SVP. Aber Giezendanner hat im zweiten Wahlgang nur noch 4,5 Prozent an Stimmen dazugewinnen können. Marianne Binder hat hingegen ihren Stimmenanteil mehr als verdoppelt.
Wie hat sie das geschafft?
Sie hat in den Städten wie Aarau, Baden, Brugg und Zofingen, in denen SP und Grüne stark sind, ein solides Polster aufgebaut. Rot-Grün hat die Güterabwägung gemacht und ist zum Schluss gekommen, dass ihnen eine bürgerliche Mitte-Ständerätin mehr bringt als ein rechtskonservativer Ständerat. Eine linke Kandidatur wäre chancenlos gewesen. Und wären eine linke Kandidatin und Marianne Binder angetreten, wäre Giezendanner mit Tempo 30 entspannt ins Ziel gefahren.
Die SVP schafft es ein weiteres Mal nicht, über ihre Basis hinaus Stimmen zu gewinnen. Wie überraschend ist das?
Bei Christian Imark im Kanton Solothurn und dem Zürcher Gregor Rutz hält sich die Überraschung in Grenzen. Die gehören zu den Lauten, da spielt der Anti-SVP-Reflex bis weit ins bürgerliche Lager hinein. Wirtschaftsliberale werden von einem wie Rutz, der seit 20 Jahren die SVP-Politik der isolierten Schweiz mitprägt, ebenfalls nicht abgeholt.
Der zweite Wahlgang im Kanton Zürich ist speziell. Die FDP hat ihre Kandidatin zurückgezogen, die wohl die besseren Chancen gegen die Grünliberale Tiana Moser gehabt hätte.
Regine Sauter gegen Tiana Moser wäre ein offenes Rennen gewesen. Aber Rutz überflügelte Sauter im ersten Wahlgang klar. Die FDP konnte nicht anders, als ihn zu unterstützen, weil die Wirtschaftsverbände Druck machten.
Zur Person
Mark Balsiger war Journalist, baute in Bosnien eine multiethnisch besetzte Radiostation auf und war Sprecher des VBS. Seit 2002 führt er eine Kommunikationsagentur. Er ist Autor mehrerer Bücher über politische Kommunikation.
Was sagt das über die FDP?
Der ehemals starke und stolze Zürcher Freisinn sucht schon seit Jahren seine Form. Man muss sich fragen, wo die Partei personell und strategisch steht. In Solothurn und Schaffhausen tat sie das gleiche: Sie zog ihre Kandidatur zugunsten von Kräften zurück, die in keinster Weise liberal sind.
Was bedeutet das für zukünftige gemeinsame Kandidaturen von FDP und SVP?
Wenn die FDP Erfolg haben will, sollte sich von der SVP emanzipieren, statt sich ihr demütig unterwerfen. Vielleicht kommt die FDP wieder einmal zu mehr Selbstbewusstsein und baut Talente auf, die ausstrahlen und mehrheitsfähig sind. Ich weiss, das sagt sich so leicht. Aber es ist machbar. Was glauben Sie, wie Andri Silberschmidt bekniet worden ist, für den Ständerat zu kandidieren! Und er wäre gewählt worden. Aber der ist jung und hat keine Eile.
Die SVP ist die Siegerin der Nationalratswahlen. Ist der heutige Tag eine Korrektur-Wahl gegen die SVP?
Dieser Begriff ist passend, ja. Einem Teil der Wählerinnen und Wähler war es ein Anliegen, mit der SVP diejenige Partei zurückzubinden, die im Nationalrat am meisten zugelegt hat. Kommt hinzu, dass die Gegen-Kandidatinnen mehrheitsfähig und populär sind. Franziska Roth (SP, SO), Marianne Binder (Mitte, AG) und Tiana Moser (GLP, ZH) sind sehr gute Wahlkämpferinnen.
Die Mitte baut ihre Führung im Ständerat aus. Was bedeutet das für die Ausrichtung der kleinen Kammer?
Die Mitte ist schon immer stark gewesen im Ständerat, jetzt hat sie ihre Macht noch ausgebaut. Ein Sitz im Ständerat zählt viermal so viel wie einer im Nationalrat. Darüber hinaus ist es im Ständerat eher möglich, politische Lösungen über die Fraktionsgrenzen hinweg zu entwerfen, als im Nationalrat.
Und was bedeutet die Mitte-Links-Mehrheit im Ständerat für die kommende Legislatur?
Das interpretiere ich nicht so. Viele Mitte-Vertreter und -Vertreterinnen im Ständerat sind solid bürgerlich. Auch die heute gewählte Marianne Binder. Der Ständerat ist seit je her ein bürgerlich dominiertes Gremium. Von daher ändert sich nicht viel. Aber wer weiss, hoffentlich entsteht mit den neuen Kräften eine frische Dynamik. Diese braucht es. Vielleicht finden sich über die Fraktionen hinweg Leute, die gut zusammenarbeiten können und beispielsweise endlich wirksame Massnahmen zur Senkung der Gesundheitskosten entwickeln wollen.
So feiern Moser und die GLP ihren Wahlsieg
GLP-Nationalrätin Tiana Angelina Moser schafft den Sprung in den Ständerat. Die 44-Jährige lässt im zweiten Wahlgang SVP-Nationalrat Gregor Rutz klar hinter sich. Im Cabaret Voltaire in Zürich wird die frisch gewählte Tiana Angelina Moser feierlich empfangen.