Zertifikats-Pflicht verschoben Jetzt kommen die Spitäler dem Bundesrat zuvor

Von Anna Kappeler

3.9.2021

Wo überall soll das Covid-Zertifikat Pflicht werden? Darüber debattiert die Schweiz.
Wo überall soll das Covid-Zertifikat Pflicht werden? Darüber debattiert die Schweiz.
Bild: KEYSTONE

Während der Bundesrat mit der Ausweitung des Covid-Zertifikats wartet, handeln andere: In den Zürcher Stadtspitälern ist dieses ab morgen Pflicht, erste Kantone prüfen es ebenfalls. Nicht allen gefällt's.

Von Anna Kappeler

3.9.2021

Die Corona-Lage spitzt sich zu. Während der Bundesrat noch vor zwei Tagen sagte, der Moment, um die Zertifikationspflicht zu verschärfen, sei noch nicht gekommen, deutet nun einiges darauf hin, dass sich dies bald ändern könnte. So teilte die Landesregierung heute Mittag mit, dass bei einem weiteren Anstieg der Spitaleinweisungen eine Überlastung der Spitäler drohe . Und Bundeskanzler André Simonazzi sagte schon am Mittwoch vor den Medien, verschlechtere sich die Lage, kämen Verschärfungen (hier unser Ticker zum Nachlesen).

Was für Folgen hat es, dass der Bundesrat abwartet? Und was bedeutet es für die Spitäler, deren Intensivstationen schon jetzt gefährlich hoch ausgelastet sind?

Harsche Worte zum Zuwarten des Bundesrates kommen von Michele Genoni, der den Verband der invasiv tätigen Ärzte präsidiert. «Es ist sehr schade, dass der Bundesrat am Mittwoch nicht weitergehend entschieden hat», sagt Herzchirurg Genoni auf Anfrage. In den Spitälern würden jetzt wieder Eingriffe verschoben, insbesondere Operationen, die zwingend einen Aufenthalt auf einer Intensivstation erfordern wie Herz-, Viszeral- und Lungen-Operationen.

«Das ist für die betroffenen Patienten sehr belastend. Und auch für das Gesundheitspersonal steigt die Belastung, sowohl körperlich als auch psychisch», sagt Genoni. Gewiss sei: «Wir haben heute bereits teilweise volle Intensivstationen – und nach wie vor eine zu tiefe Impfrate.» Die Impfung sei der Weg, um aus der Pandemie herauszufinden.

In Zürcher Spitäler gilt ab morgen Zertifikatspflicht

Auch die Zürcher Stadtspitäler schlagen heute Vormittag öffentlich Alarm. Sie warten nicht mehr ab, sondern gehen weiter als der Bundesrat. Das Stadtspital Zürich – also das Triemli und die Waid – führt morgen Samstag für alle Besucher*innen die Covid-Zertifikatspflicht ein. «Diese Massnahme dient dem Schutz der Patient*innen sowie Mitarbeitenden des Stadtspitals», sagt eine Sprecherin auf Anfrage.

Die angespannte Situation zwinge das Stadtspital bereits wieder, einzelne Eingriffe abzusagen, weil die notwendige IPS-Kapazität nicht vorhanden sei.

Ähnlich klingt es beim Universitätsspital Zürich. «Die Intensivstationen sind sehr voll. Die Lage ist angespannt», sagt ein Sprecher auf Anfrage. Heute seien 22 der 64 zertifizierten IPS-Betten mit Corona-Patient*innen belegt. Weitere 22 Covid-19-Patient*innen würden auf der Normalstation behandelt.

Auffällig auch hier: «Die meisten Patient*innen sind ungeimpft», sagt der Sprecher. Und weiter: «Das USZ hat wieder begonnen, anstehende Operationen zu verschieben.»

44-Jährige mit Tumor, geimpft, muss auf OP warten

Ebenfalls heute haben die Berner Spitäler informiert. Dort ist die Corona-Lage stabil, gleichwohl zeigt sich Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg (SVP) besorgt. Auch er betont, dass die Patient*innen auf der Intensivstation «ausnahmslos ungeimpft» seien.

Schneggs Zürcher Amts- und Parteikollegin Nathalie Rickli erzählt derweil auf «TeleZüri» von einem persönlichen Schreiben, das sie erhalten habe: «Eine gleichaltrige, also 44-jährige, Frau hat mir geschrieben, dass sie einen Tumor herausoperieren lassen müsste. Sie ist geimpft», sagt Rickli im Beitrag. Der Frau habe man nun die Operation absagen müssen, weil auf der IPS so viele ungeimpfte Corona-Patienten liegen.

«Bundesrat in politischer Zwickmühle»

«Skandalös» findet solche Vorkommnisse Nationalrätin Ruth Humbel (Mitte/AG). Sie ist Präsidentin der Gesundheitskommission des Nationalrates SGK-N. «Es ist nicht vertretbar, dass Krebs-Patienten keine Operation mehr bekommen, nur weil die Intensivstation mit ungeimpften Corona-Patienten belegt ist.»

Humbel ist enttäuscht, dass der Bundesrat es nicht geschafft habe, klare Indikatoren für eine Verschärfung zu setzen. «Etwa so wie im Kanton Aargau: Sind mehr als die Hälfte der IPS-Plätze belegt, kommt es zu einer Zertifikationsverschärfung.»

Humbel sieht nicht ein, warum die Schweiz mit der erweiterten Zertifikationspflicht wartet. Im Ausland, etwa in Frankreich und Italien, funktioniere eine solche ja auch, sagt sie. «Der Bundesrat übt wohl eine gewisse Zurückhaltung, weil er ein Nein zum Covid-Referendum im November fürchtet», vermutet Humbel.

Das sei schon eine politische Zwickmühle: Der Bundesrat und die Kantone seien ja für eine Verschärfung, die SVP aber empfehle die Nein-Parole. «Es ist verantwortungslos von der SVP, hier so offensichtlich Klientel-Politik und Stimmenfang für Impf-Verweigerer zu betreiben», sagt Humbel. Zumal die kantonalen SVP-Gesundheitsdirektoren, also die, die wirklich ausbaden müssten, «ja alle vernünftig» seien.

SVP will mehr Intensivbetten – «nicht sinnvoll»

Die SVP ihrerseits begrüsst die Nichtausweitung der Zertifikationspflicht des Bundesrats. Die Partei teilte mit: «Um eine allfällige Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern, ist es zielführender und letztlich unter dem Strich günstiger, die Zahl der Intensivbetten (…) zu erhöhen.» 

Damit nicht einverstanden ist Nationalrätin Yvonne Feri (SP/AG), ebenfalls Mitglied der SGK-N. Den Vorschlag der SVP findet sie nicht sinnvoll. «Wir brauchen insbesondere Pflegepersonal», sagt Feri.

Den Entscheid des Bundesrates, das Zertifikat vorerst nicht auszuweiten, kann Feri nachvollziehen. Und zwar deshalb, «weil die Zahlen sich in den letzten Tagen stabilisiert haben und auch sehr viel Widerstand von gewissen Branchen und aus grösseren Bevölkerungskreisen gekommen ist».

Viele Kantone kritisieren den Bundesrat indes für seinen Nichtentscheid. So sprach sich der Berner Gesundheitsdirektor Schnegg ebenfalls heute für eine Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht aus.