BAG-Kuster im Interview «Die aktuelle Situation bereitet mir Sorgen»

Von Jennifer Furer

20.8.2020

Stefan Kuster übernahm auf den 1. April die Leitung der Abteilung Übertragbare Krankheiten des Bundesamtes für Gesundheit.
Stefan Kuster übernahm auf den 1. April die Leitung der Abteilung Übertragbare Krankheiten des Bundesamtes für Gesundheit.
Keystone

Nach der BAG-Pannenserie stand Stefan Kuster unter Kritik. Jetzt äussert er sich erstmals im Interview zur jüngsten Falschmeldung – und, wie er die aktuelle Lage einschätzt.

Herr Kuster, was denken Sie über die aktuelle Lage?

Sie bereitet mir Sorgen. Die Infektionen sind nach wie vor leicht steigend, und wir wissen nicht, wie sich die Zahlen weiter entwickeln. Es ist deshalb wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die meisten Ansteckungen nach wie vor nicht im Ausland, sondern in der Schweiz stattfinden.

Was ist mit den Ferienrückkehrerinnen und -rückkehrern?

Was diese anbelangt, so werden die notwendigen Massnahmen, also die Definition von Risikoländern und die Quarantänemassnahmen von Bund und Kantonen umgesetzt. Sehr wichtig ist, dass sich Personen nach der Rückkehr aus einem Risikoland auch wirklich in Quarantäne begeben. Das mag nicht immer angenehm sein, aber es ist ein Akt der Solidarität.

Sind die Zahlen derzeit zu hoch?

Über die letzten Wochen hat die Zahl der Neuinfektionen kontinuierlich zugenommen. Wir beobachten das mit einer gewissen Besorgnis. Die Situation ist allerdings nicht in allen Kantonen und Regionen gleich. Es gibt lokale Infektionsherde.

Das bedeutet?

Dort wo solche Situationen auftreten, sind es die Kantone, die angemessene Massnahmen ergreifen müssen. Es geht darum, die Situation so weit in Griff zu bekommen, dass Infektionsketten unterbrochen und ein Übergreifen auf andere Regionen verhindert werden kann. Wir sind in engem Kontakt mit den Kantonen und tauschen uns regelmässig aus.

Umfrage
Waren Sie während der Sommerferien im Ausland?

In Hinblick auf den Herbst und Winter können die steigenden Fallzahlen beunruhigend sein. Müsste nicht jetzt eingegriffen werden, um diese jetzt zu senken?

Die Kompetenz, Massnahmen zu ergreifen, liegt seit der Rückkehr aus der besonderen Lage bei den Kantonen, mit denen wir einen Austausch pflegen. Wir können nicht wissen, welche Fallzahlen wir in ein paar Wochen oder Monaten haben. Entscheide und Massnahmen treffen die Kantone auf der Basis einer konkreten oder einer sich konkret abzeichnenden Situation. Gerade deshalb ist es wichtig, dass die Kantone das Contact Tracing gut machen können und dass die Ärzte die Meldeformulare ausfüllen und einreichen. Nur so ist es Bund und Kantonen möglich, ein angemessenes Bild der Situation zu erhalten.

Das BAG wird in Zusammenhang mit den Coronameldeformularen kritisiert. Es kam schon zu mehreren Fehlern. Jüngst wurde ein 30-Jähriger für tot erklärt, obwohl er sich in Isolation befand. Was sagen Sie dazu?

Fehler können passieren, bei allen Akteuren. Was die Formulare anbelangt: Es ist sehr wichtig, dass die Ärzte sie tatsächlich ausfüllen, so wie es ihre Pflicht ist – und selbstverständlich auch, dass sie sie korrekt ausfüllen. Nur dann können wir sie auch korrekt in unsere Systeme übernehmen.

Ergreift das BAG nun Massnahmen?

Projekte, um das Meldesystem und die Datengrundlage weiter zu verbessern, laufen bereits seit einiger Zeit. Die Kantone verfügen über Datenbanken, sogenannte Tools, die vom BAG evaluiert werden. Zudem ist das BAG daran, eine nationale Datenbank aufzubauen, in welche die Daten aus den teilnehmenden Kantonen eingespeist werden können. Der Bund ist bereit, nun passen die Kantone ihre Systeme an.

Ist das BAG nach den Pannen, die ihm unterlaufen sind, noch glaubwürdig?

Ich denke, dass das BAG seine Glaubwürdigkeit behalten hat. Fehler können passieren – gerade vor dem Hintergrund dieser ungewohnten, neuen Herausforderung. Diese Situation ist nicht nur für das BAG, sondern für alle Akteure neu. Man muss aber auch sehen, dass wir eine sehr geringe Fehlerquote haben, über all die Monate hin gerechnet. Und die Fehler, die passiert sind, haben keinerlei epidemiologische Auswirkungen gehabt. Man muss akzeptieren, dass in einer solchen Situation Fehler passieren und auch in Zukunft passieren können. Wichtig ist, wie man damit umgeht und was man daraus lernt. Wir haben organisatorische Konsequenzen gezogen, die wir aktuell umsetzen.

Stefan Kuster mit Gesundheitsminister Alain Berset vor dem Bundeshaus in Bern.
Stefan Kuster mit Gesundheitsminister Alain Berset vor dem Bundeshaus in Bern.
Keystone

Derzeit sind die Kantone für weitere Massnahmen zur Eindämmung des Virus verantwortlich. Machen sie genug?

Die Kantone machen einen guten Job, ja. Gerade jetzt, im Zusammenhang mit dem Beginn des Schuljahrs, aber auch beim Contact Tracing und bei der Umsetzung der Quarantänemassnahmen tun sie viel. Bisher stossen sie auch beim Contact Tracing nicht an ihre Grenzen.

Welche Rolle spielt der Bund derzeit?

Der Bund kann weiterhin nach Anhörung der Kantone national gültige Massnahmen erlassen, wie er das beispielsweise mit der Maskenpflicht im ÖV getan hat, sofern dies die Situation erfordert. Wichtig ist aber vor allem die koordinierende Funktion des Bundes, um die Kantone bei ihren Massnahmen zu unterstützen. Ausserdem gibt der Bund Empfehlungen für Massnahmen der Kantone und direkt für das Verhalten der Bevölkerung ab.

«Wir sind zum jetzigen Zeitpunkt zuversichtlich, dass auf diese Weise Grossveranstaltungen möglich sein werden.»

Der Bundesrat hat jüngst die Aufhebung der 1000er-Grenze für Grossevents vollzogen. Viele Kantone haben sich etwa gegen diese Massnahme gestellt.

Der Entscheid des Bundesrats ist nachvollziehbar. Es gibt Grossveranstaltungen mit über 1000 Personen, die höchstens ein minimales epidemiologisches Risiko darstellen. Dort kann man Regeln wie Abstand, Hygiene und falls notwendig das Tragen von Masken gut einhalten. Bei anderen Veranstaltungen hingegen wird das schwierig sein. Und dazwischen gibt es eben viele Veranstaltungen, bei denen man mit gut ausgearbeiteten Schutzkonzepten, wie sie im Moment vonseiten diverser Verbände – zum Beispiel Sportverbände – bereits vorliegen, das Risiko sehr stark minimieren kann.

Werden Grossveranstaltungen also bald wieder in unseren Alltag Einzug finden?

Wir sind zum jetzigen Zeitpunkt zuversichtlich, dass auf diese Weise Grossveranstaltungen möglich sein werden. Selbstverständlich wissen wir jetzt nicht, wie die epidemiologische Situation in ein paar Wochen sein wird und ob wir allenfalls unsere Einschätzung werden anpassen müssen.

Könnte es demnach auch sein, dass wieder die ausserordentliche Lage ausgerufen wird?

Das ist zurzeit kein Thema. Die Kantone kennen die Situation vor Ort und machen einen guten Job. Selbstverständlich muss die epidemiologische Situation laufend beobachtet werden.

Wie wichtig erscheint Ihnen das Testen im Moment als Massnahme?

Testen ist selbstverständlich enorm wichtig, damit Infektionsketten frühzeitig erkannt und unterbrochen werden können und damit Bund und Kantone einen Überblick über die Situation erhalten und entscheiden und handeln können. Nur so kann die Ausbreitung des Virus eingedämmt werden. Das Testen funktioniert in der Schweiz im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sehr gut, das ist erfreulich.

Es ist zu beobachten, dass Hausärzte mit der derzeitigen Situation überfordert sind – und Personen, die sich testen lassen möchten abweisen. Braucht es hier Massnahmen?

Es ist wichtig, dass man bereits bei geringen Symptomen testet. Ich verstehe, dass nicht jeder Hausarzt testen möchte oder kann. Aber er oder sie kann die Patienten jederzeit in ein kantonales Testzentrum überweisen, zum Beispiel in ein Spital.

Das Interview wurde auf Wunsch des Bundesamtes für Gesundheit schriftlich geführt.

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