SBB müssen für Sturz zahlen «Es besteht die Gefahr, die Verantwortung abgeben zu wollen»

Von Andreas Fischer und Philipp Dahm

2.3.2023

Ein SBB-Zug ist in Zürich im Begriff, über eine Weiche zu fahren: Beim Weg zum Sitzplatz ist eine Seniorin in ähnlicher Situation gestürzt, wofür die Bahn nun geradestehen muss.
Ein SBB-Zug ist in Zürich im Begriff, über eine Weiche zu fahren: Beim Weg zum Sitzplatz ist eine Seniorin in ähnlicher Situation gestürzt, wofür die Bahn nun geradestehen muss.
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Die SBB muss die Behandlung einer Seniorin zahlen, die im Zug gestürzt ist: Das Urteil lässt «gewisse Fragen unbeantwortet», erklärt der Experte – und verrät, was für ÖV-Kund*innen dabei wichtig ist.

Von Andreas Fischer und Philipp Dahm

Eine Rentnerin stürzt, als der Zug über eine Weiche fährt – nun müssen die SBB die Behandlung ihres daraus resultierenden Bruchs bezahlen, hat Ende Februar das Berner Handelsgericht entschieden.

Was bedeutet die Causa für die Kunden im öffentlichen Verkehr? Müssen sich die SBB jetzt eine Kriegskasse für Klagen anlegen? Frédéric Krauskopf von der Universität Bern gibt als Experte für Haftpflicht- und Versicherungsrecht Antworten.

Zur Person
Bild: blue News

Professor Doktor Frédéric Krauskopf ist Direktor des Instituts für Haftpflicht- und Versicherungsrecht an der Universität Bern. Die Schwerpunkte des Forschers liegen im Obligationen-, im Vertrags- und im Haftpflichtrecht. Er befasst sich ausserdem mit Fragen des internationalen Privatrechts und des Zivilprozessrechts.

Was bedeutet das Urteil für die SBB generell?

Das Urteil bedeutet keine Änderung der Rechtslage: Dass ein Eisenbahn-Unternehmen haften kann, wenn sich Passagiere infolge einer Erschütterung – insbesondere ruckartiges oder abruptes Bremsen – verletzen, ist bereits anerkannt.

Was bedeutet das Verdikt für andere Verkehrsbetriebe?

Das Urteil betrifft die Eisenbahn und den besonderen Fall, dass durch das Befahren einer Weiche eine ruckartige seitliche Bewegung des Waggons verursacht wurde. Diese spezielle Situation kommt beispielsweise bei Busbetrieben nicht vor. Dort liegen die Verhältnisse anders. Buspassagiere müssen stets mit Beschleunigung und Abbremsen rechnen.

Wer wie hier in Bern Bus fährt, muss mit Bewegungen rechnen.
Wer wie hier in Bern Bus fährt, muss mit Bewegungen rechnen.
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Ist der Fall wegweisend?

Die Tragweite des Urteils darf nicht überbewertet werden. So blieben in diesem Fall gewisse Fragen unbeantwortet. Offen blieb, ob sich der Unfall in Bahnhofsnähe ereignete, wo Passagiere mit Weichen oder Spurwechseln rechnen müssen. Unbeantwortet blieb auch, ob die geschädigte Person im Unfallzeitpunkt die Möglichkeit hatte, sich festzuhalten und dies trotzdem nicht getan hat.

Können die Verkehrsbetriebe nun generell haftbar gemacht werden – etwa bei einer Notbremsung des Busses, wenn sich Passagiere nicht festhalten?

So würde ich das nicht sagen. In jedem Schadensfall ist nämlich zu prüfen, ob sich eine typische Betriebsgefahr verwirklicht hat und ob nicht ein Selbstverschulden aufseiten der geschädigten Person vorliegt.

Typische Betriebsgefahr? Ein Bus wird nach einem Unfall in Zürich abgeschleppt.
Typische Betriebsgefahr? Ein Bus wird nach einem Unfall in Zürich abgeschleppt.
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Werden Passagiere von der Sorgfaltspflicht ausgenommen?

Nein. Die Gesetzgebung sieht ausdrücklich vor, dass mangelnde Sorgfalt, also ein Selbstverschulden des geschädigten Passagiers, dazu führen kann, dass die Haftung ganz entfällt oder mindestens reduziert wird.

Nähern wir uns mit dem Urteil «amerikanischen Verhältnissen»?

Das ist eine berechtigte Frage. Tatsächlich scheint es so, als würden die Hürden für die Haftung generell abnehmen. Es wird von einer «Amerikanisierung» des Haftpflichtrechts gesprochen. Die Eisenbahnhaftung ist aber dafür kein gutes Beispiel, weil da die strenge Haftung seit Jahrzehnten besteht.

Besteht die Gefahr, dass der gesunde Menschenverstand bei Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln vernachlässigt wird?

Natürlich besteht die Gefahr, die Verantwortung für das eigene Verhalten abgeben zu wollen. Das ist aber riskant, denn ein Selbstverschulden wirkt sich auf die Haftungsansprüche der geschädigten Person nachteilig aus.

Mitarbeit: phi