Doppel-Interview «Das war eine brutale Zeit» – «Alles ist komplizierter geworden»

Von Gil Bieler

24.9.2023

Routinier-Tipps für Neugewählte: «Sich nicht zu ernst nehmen»

Routinier-Tipps für Neugewählte: «Sich nicht zu ernst nehmen»

Hans Stöckli und Christa Markwalder ziehen einen Schlussstrich: Der SP-Ständerat und die FDP-Nationalrätin werden sich im Herbst nach rund 20 Jahren aus dem Parlament verabschieden. blue News verraten sie ihre Tipps für alle Neugewählten.

19.09.2023

FDP-Nationalrätin Christa Markwalder und SP-Ständerat Hans Stöckli sind Veteranen im Bundeshaus. Doch nach den Wahlen im Herbst treten sie zurück. Im Doppelinterview blicken sie zurück auf 20 Jahre im Parlament.

Von Gil Bieler

24.9.2023

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Mit den eidgenössischen Wahlen am 22. Oktober endet für eine ganze Reihe von altgedienten Parlamentarier*innen ihre Zeit im Bundeshaus. 
  • Auch die FDP-Nationalrätin Christa Markwalder und der SP-Ständerat Hans Stöckli ziehen nach knapp 20 Jahren einen Schlussstrich.
  • Im Doppelinterview blicken die beiden Berner*innen zurück auf Höhen, Tiefen und Veränderungen in zwei Jahrzehnten Ratsbetrieb.

Sie beide sind vor knapp 20 Jahren ins Parlament eingezogen. Wissen Sie noch, wer Ihnen als erstes gratuliert hat?

Christa Markwalder: Meine Eltern, die waren natürlich mächtig stolz. Für meinen Vater war es ohnehin eine spezielle Situation, weil er durch meine Wahl in den Nationalrat für mich in den Berner Grossen Rat nachrücken konnte. Dort hatte ich ihn eineinhalb Jahre zuvor abgelöst.

Hans Stöckli: Ich wurde ja nicht direkt gewählt, sondern musste ein paar Monate warten, bis Rudolf Strahm sein Nationalrats-Mandat aufgab. Er war damals Preisüberwacher geworden. Ich bin für ihn in den Rat nachgerückt und entsprechend war er es, der mir das mitgeteilt hat und mir auch als erstes gratuliert hat.

20 Jahre sind eine lange Zeit: Was hat sich im Bundeshaus am meisten verändert?

Stöckli: Alles ist komplizierter geworden – auch bei den Eingangskontrollen. Das machte die Abläufe umständlicher. Die Themen blieben aber interessanterweise mehr oder weniger die gleichen.

Ist man in all der Zeit gar nicht weitergekommen?

Stöckli: Nicht überall, mancherorts ging es sogar einen Schritt zurück, zum Beispiel in der Europa-Frage. Und die Digitalisierung hat natürlich vieles verändert. Gerade für ältere Semester ist das eine Herausforderung, aber zugleich eine unglaubliche Erleichterung. Nur schon, wie einfach man sich heute organisieren kann, und wie schnell man via Mail Antworten erhält. Ein Quantensprung. Wobei auch gesagt werden muss: Die Arbeit im National- und im Ständerat ist nicht vergleichbar. Ich bin daher dankbar, konnte ich dann zwölf Jahre lang im Ständerat tätig sein.

«Im Ständerat musst du aufpassen, was du sagst, weil man sich wirklich zuhört.»

Hans Stöckli

Berner SP-Ständerat

Was meinen Sie damit?

Stöckli: Im Ständerat ist es viel ruhiger. Und du musst aufpassen, was du sagst, weil man sich wirklich zuhört. Man ist auch viel engagierter, weil doppelt so viel Kommissionsarbeit anfällt und es einfacher ist, sich mit Bundesrat und Verwaltung auszutauschen. Entsprechend ist auch die Verantwortung grösser.

Frau Markwalder, als Nationalrätin: Teilen Sie dieses Loblied auf den Ständerat?

Markwalder: Ich führe häufig Besucher durch das Bundeshaus und schicke jene, die auf der Nationalratstribüne das Gefühl bekommen, niemand höre wirklich zu, jeweils in den Ständerat. Um zu zeigen: Es gibt doch noch eine Chambre de réflexion, wo man sich – zum Teil – wirklich besser zuhört. Das hängt natürlich damit zusammen, dass es nur 46 Ständeratsmitglieder gibt und der Ratsbetrieb einfacher zu organisieren ist.

Was hat sich aus Ihrer Sicht am meisten verändert im Parlament?

Markwalder: Die Diversität. Als ich im Dezember 2003 im Parlament angekommen bin, gab es kaum Junge und noch viel weniger Frauen als heute. Ich war ohnehin eine Exotin: jung, Frau und nicht links. In diesem Bereich haben wir deutlich aufgeholt, seit den letzten Wahlen etwa mit dem höchsten Frauenanteil seit Einführung des Frauenstimmrechts. Die Altersdurchmischung ist ebenfalls besser geworden.

Und wie bewerten Sie den Einfluss der erwähnten Digitalisierung?

Markwalder: Die sozialen Medien haben das Politsystem zum Besseren und zum Schlechteren verändert. Positiv ist, dass man seine Wählerinnen und Wähler direkt erreichen kann, ohne dass ich erst einen Journalisten überzeugen muss, darüber zu berichten. Negativ ist, dass die politische Kultur unter dem schlechten Stil leidet, der auf sozialen Medien gepflegt wird. Wenn es darum geht, zusammenzuarbeiten und die Schweiz voranzubringen, hat sich die politische Kultur bestimmt nicht zum Besseren entwickelt in den letzten 20 Jahren. Das sieht man an grossen Baustellen wie der Altersvorsorge oder der Europapolitik.

Schwindet denn der Wille zum gutschweizerischen Kompromiss?

Markwalder: In vielen Themen ist es tatsächlich schwierig. Nehmen wir nochmals die Altersvorsorge: Obwohl wir uns einig sind, dass es Reformen braucht, haben Gewerkschaften und SP auch gegen die Pensionskassenreform das Referendum ergriffen, es werden wieder unsäglich Fallbeispiele durchgerechnet und wir werden darüber abstimmen. Auch bei der Wiederausfuhr von Schweizer Waffen an die Ukraine ist es uns leider nicht gelungen, einen Kompromiss zu finden. Bei anderen Themenfeldern wie der Energieversorgung dagegen gelingt das doch noch.

Stöckli: Es braucht meist Ereignisse von aussen, damit sich etwas bewegt, wie den Krieg in der Ukraine oder die Corona-Pandemie. Aber die einende Wirkung dieser Ereignisse verpufft jeweils auch schnell wieder. Wenn es darum geht, mehrheitsfähige Lösungen zu finden, die das Land weiterbringen, war die letzte Legislatur nicht sehr erfolgreich – mit Ausnahme der Covid-Krise. Die Pandemie haben wir ganz gut gemeinsam gemeistert.

Das sagen Sie, Herr Stöckli, da Sie im Corona-Jahr 2020 ja Ständeratspräsident waren.

Stöckli: Natürlich hat mich das geprägt. Wir mussten den Ratsbetrieb quasi auf der grünen Wiese neu aufziehen, und erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg umfassendes Notrecht erlassen. Damit hatte ich mich zuletzt als Student befasst! Insgesamt haben wir das aber gut gemeistert. Ich denke noch oft zurück an den sagenhaften Entscheid vom 15. März 2020, die Frühjahrssession des Parlamentes abzubrechen. Aber man muss aus Erfahrungen lernen und wir haben aus der Covid-Krise ganz viele Lehren gezogen. Das ist gut und recht, nur befürchte ich: Die nächste Krise wird dann ein ganz anderes Gesicht haben. Und es braucht dann wieder ganz andere Lösungen.

Herr Stöckli, durfte man bei Ihrem Amtsantritt im Bundeshaus noch rauchen?

Stöckli: Aber ja! Zwar nicht in den Parlamentssälen, aber sonst überall. Das änderte sich erst, als Simonetta Sommaruga 2005 – damals noch als Nationalrätin – ein Verbot durchgeboxt hat. Da nahm das Parlament eine wichtige Vorbildfunktion ein, denn die gleiche Diskussion wurde später auch um das Rauchverbot in den Beizen geführt.

Die SP lobt Ihre Verdienste als Gesundheitspolitiker, Sie haben etwa die Initiative zum Schutz von Kindern vor Tabakwerbung durchgebracht. Ist das Ihr grösster Erfolg?

Stöckli: Es gab natürlich einiges mehr, das mir geglückt ist. Und auch einiges, das mir misslungen ist, wie mein Engagement für Olympische Winterspiele 2026 in Sion. Aber dass wir die Volksinitiative durchbringen konnten, macht mich sehr glücklich. Jetzt müssen wir sie noch so umsetzen, wie es die Stimmbevölkerung will.

Frau Markwalder, Sie lobten vorhin den gestiegenen Frauenanteil im Parlament. Ging es auch bei der Vereinbarkeit von Familie und Parlamentsmandat vorwärts?

Markwalder: Grundsätzlich gibt es heute natürlich viel mehr Angebote für die Kinderbetreuung. Nur nicht im Bundeshaus. Die Vereinbarkeit von Parlamentsmandat und kleinem Kind ist … na ja.

Stöckli: Konntest du den Ruheraum im Parlament denn nutzen? Das war ein teurer Raum!

Markwalder: Nein, wie auch? Jemand muss dir ja das Kind zum Stillen bringen und wieder abholen. Du kannst es ja nicht einfach irgendwo parkieren, es braucht auch davor und danach ein Betreuungsangebot. Von daher: Gut gemeint, aber nicht zu Ende gedacht.

Wofür möchten denn Sie in Erinnerung bleiben, Frau Markwalder?

Markwalder: Ich konnte einige Pflöcke einschlagen, etwa mit meiner Motion und der Volksinitiative zur Einführung der Individualbesteuerung oder meiner parlamentarischen Initiative, dass die Kosten für die Kinderbetreuung bis 25’000 Franken pro Kind und Jahr von der Steuer abgezogen werden können. Wobei die Individualbesteuerung natürlich noch nicht angenommen ist. Ich wäre auch gerne als Retterin des Institutionellen Rahmenabkommens mit der EU in Erinnerung geblieben: Ich habe dem Bundesrat ein neunseitiges Papier geschrieben, wie er das hätte retten können – nur wollte er davon nichts wissen und hoffte, dass sich die Probleme in Luft auflösen. Was natürlich nicht geschah. Ich erinnere mich übrigens noch gut, wie sich Hans und ich gemeinsam für die Bilateralen eingesetzt haben.

«Ich wäre auch gerne als Retterin des Rahmenabkommens mit der EU in Erinnerung geblieben»

Christa Markwalder

Berer FDP-Nationalalrätin

Erzählen Sie.

Markwalder: Wir sind gemeinsam an einem SVP-Podium aufgetreten. Alle Männer erhielten eine Flasche Wein, ich so ein kleines Blümchen. Da hat Hans durchgegriffen und gesagt: «Nimm du meinen Wein, ich nehme die Blume.» So haben wir getauscht und er konnte die Blume seiner Frau mitbringen.

In die Schlagzeilen gerieten Sie, Frau Markwalder, auch wegen der sogenannten Kasachstan-Affäre: War das die intensivste Zeit für Sie?

Markwalder: Das war einfach eine brutale Zeit, und ich mache den Medien nach wie vor den Vorwurf, dass sie sich nur gegenseitig abgeschrieben haben, ohne der Sache auf den Grund zu gehen. Dass gewissen Journalisten sogar Wetten abgeschlossen haben, dass mich das die Wahl zur Nationalratspräsidentin kosten würde. Mit den entsprechenden Journalisten spreche ich seit acht Jahren nicht mehr. Aber intensiver war eine andere Zeit, nämlich mein Präsidialjahr 2016.

Was forderte Sie da besonders?

Markwalder: Das war ein steiler Einstieg: Nur zehn Tage, nachdem ich zur Nationalratspräsidentin gewählt wurde, standen Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats an. Davor hatte ich riesigen Respekt, denn ich habe schon manch eine chaotische Wahl erlebt. Aber mir sind sie gesittet und würdevoll gelungen. Dank meiner aussenpolitischen Tätigkeiten konnte ich ausserdem viel reisen, unter anderem in die Ukraine, nach Moldawien, nach China, in die USA, Frankreich, Italien …

Stöckli: … und Brüssel!

Markwalder: Nein, in Brüssel war ich nicht. Aber alles in allem kamen so 19 Länder zusammen, die ich in meinem Präsidialjahr besucht habe.

Frage an Sie beide: Welches Thema hätte im Parlament mehr Gewicht verdient?

Stöckli: Für mich ist es klar: die Idee der Gesundheitsprävention. Die ist in anderen Ländern viel präsenter. Dass die Initiative zum Schutz der Kinder vor Tabakwerbung durchkam, liebe Christa, ist nicht selbstverständlich. Es war der erste solche Entscheid für Prävention in unserem Land. Wir reden alle immer davon, dass wir den Anstieg der Gesundheitskosten dämpfen sollten und dass die Prämien explodieren. Mit Prävention könnte man einen wesentlichen Beitrag dazu leisten. Allein dank der Initiative werden in den nächsten Jahren 100’000 Menschen weniger rauchen, das wissen wir aus den Erfahrungen anderer Länder. Damit werden wir nicht nur weniger Süchtige haben, sondern auch mehrere Milliarden pro Jahr an Kosten einsparen.

Markwalder: Aus liberaler Sicht kann ich diese Argumentation nicht teilen, aber überall können sich Hans und ich ja auch nicht einig sein. Für mich ist klar, dass die Aussenpolitik einen zu geringen Stellenwert im Parlament hat. Auch das traditionell die Domäne des Bundesrats ist, hat auch das Parlament ein Mitspracherecht, und in unserer vernetzten Welt wird Aussenpolitik immer wichtiger. Bloss merken wir das erst, wenn es Krisen gibt, wenn wir unter Druck geraten, wenn wir uns rechtfertigen müssen. Und selbst dann erstaunt es mich jeweils, wie viele Politiker*innen nur einen innenpolitischen Fokus setzen. Es ist eben so: Mit Aussenpolitik lässt sich leider kein Blumentopf gewinnen, aber sie ist enorm wichtig.