Mit Ruth Humbel beim OL: «Auch hier ist der direkte Weg nicht immer der schnellste»

Mit Ruth Humbel beim OL: «Auch hier ist der direkte Weg nicht immer der schnellste»

Die ehemalige OL-Spitzenläuferin Ruth Humbel verirrt sich beim Plausch-Orientierungslauf prompt – und sagt, warum für sie trotz Abstrichen für die Frauen kein Weg an der AHV-Reform vorbeiführt.

11.08.2022

Schulterblick III, mit Ruth Humbel Eine Verletzungspause führte die Spitzensportlerin in die Politik

Von Lia Pescatore (Text) und Nicole Agostini (Video)

13.8.2022

Die ehemalige OL-Spitzenläuferin Ruth Humbel verirrt sich beim Plausch-Orientierungslauf prompt – und sagt, warum für sie trotz Abstrichen für die Frauen kein Weg an der AHV-Reform vorbeiführt.

Von Lia Pescatore (Text) und Nicole Agostini (Video)

13.8.2022

Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel ist an diesem Aargauer 3-Tage-OL eine kleine Berühmtheit. Dies nicht ohne Grund: In ihren besten Zeiten als Orientierungsläuferin hat sie etliche Schweizer Titel und mit der Staffel auch einige Bronzemedaillen an der WM gewonnen. Und damit auch ein wenig Ruhm in ihren Heimatkanton Aargau gebracht. In ihrer Alterskategorie ist sie auch 30 Jahre nach Karriere-Ende «noch vorne mit dabei», sagt die Birmenstorferin bescheiden.

An diesem OL-Anlass in Leutwil kennt und schätzt sie darum scheinbar jeder. «Super Frau», heisst es da von einer alten Bekannten. «Ihr rennt mit Ruth mit – dann müsst ihr aber gschwind sein», meint ein kleiner Bub.

Bevor es überhaupt losgeht, müssen erst die 2,5 Kilometer zum Start zurückgelegt werden.

Normalerweise würde sie die Strecke zum Start bereits laufen, um sich aufzuwärmen, aber auch um den Fokus zu finden, den es für den OL brauche. Rituale? Habe sie keine, und nervös sei sie vor Wettkämpfen kaum, «ich freue mich einfach darauf, dass es endlich losgeht». Sie löst mit einem Fingerzeig ihres Badges unseren ganz persönlichen Startschuss aus.

OL ist auch Handarbeit: Beim Lauf immer mit dabei hat Ruth Humbel ihren Kompass, den Badge sowie eine Armtasche, in der sie die Beschreibung der Posten verstauen kann.
OL ist auch Handarbeit: Beim Lauf immer mit dabei hat Ruth Humbel ihren Kompass, den Badge sowie eine Armtasche, in der sie die Beschreibung der Posten verstauen kann.
Nicole Agostini

Die Gleichberechtigung hat sie als Jugendliche politisiert

Schon als Mädchen hat sich Ruth Humbel für Gleichberechtigung eingesetzt, politisiert hat sie auch der Sport. In ihrer Schulzeit hätten Mädchen anfangs nur 600 Meter rennen dürfen, mussten die Handarbeit besuchen, während die Jungen in den Sportunterricht gingen. Eine Verletzungspause brachte sie dann in die Politik: Sie kandidierte für den Grossen Rat im Aargau, und wurde überraschend gewählt, auch dank der Bekanntheit, die ihr der OL eingebracht hatte. «Da war für mich klar, dass ich dieses Amt annehmen werde, wenn die Bevölkerung einer jungen Frau schon so viel Vertrauen entgegenbringt.»

Ein Pieps bezeugt es, wir haben den ersten Posten bestritten. Von Konkurrenzdenken ist kaum etwas zu spüren. Wer sich verirrt, dem wird geholfen, «besonders den Kindern», erklärt Ruth Humbel. Die jüngsten Teilnehmenden sind unter zehn Jahre alt, der älteste 91 Jahre – Ruth Humbels Vater. OL-Laufen, das ist Familiensache, auch bei den Humbels: Heute rennen drei Generationen mit, denn auch die Tochter Flavia Näf ist am Start.

Humbel bewies nicht von Beginn an Talent: «Anfangs habe ich mich ständig verlaufen und bin immer auf dem letzten oder vorletzten Platz gelandet», erzählt sie. Ganz anders ihr Bruder, sein Erfolg habe ihren Ehrgeiz geweckt: «Da wusste ich, das will ich auch können.» Mit 19 Jahren, vier Jahre später, stieg sie ins Nationalkader auf.

«Man muss die Politik verfolgen, die seinem Naturell entspricht.»

Nach über 20 Jahren im Grossrat wechselte Humbel 2003 in den Nationalrat – damals machten die Frauen einen Fünftel der grossen Kammer aus, heute sind es doppelt so viele. Frauenthemen beschäftigen Humbel bis heute, besonders die Sozialversicherungsreform. Dass die Frauen in der aktuellen AHV-Reform ständig als Opfer heraufbeschworen würden, mache ihr aber Mühe. Von den Gewerkschaften sei nur zu hören, dass die Frauen mit der Reform 24'000 Franken weniger AHV erhalten würden. «Sie erwähnen aber nicht, dass die Frauen heute auch 91'000 Franken mehr AHV beziehen als die Männer, weil sie länger leben und ein Jahr früher in Rente gehen.»

Polit-Sommerserie Schulterblick

Im Sommer fährt die Politik einen Gang runter. Wie verbringen Politiker*innen ihre (Frei-)Zeit? Vier Persönlichkeiten aus den vier Bundesratsparteien gewähren einen Schulterblick bei ihren Hobbys. Den Anfang machte SVP-Nationalrätin Esther Friedli, die ihre Eringerkühe zeigte. Im zweiten Teil besuchte blue News SP-Co-Chefin Mattea Meyer in ihrem Garten. Dies ist der dritte Teil. Für den letzten Teil geht es mit FDP-Präsident Thierry Burkart an ein Heavy-Metal-Konzert. (red.)

Humbel hat neben Politik und Sport immer gearbeitet, obwohl sich das finanziell nicht ausbezahlt habe. «Natürlich ist das nicht attraktiv, wenn das ganze erarbeitete Geld für die Kinderbetreuung draufgeht», darum setze sie sich für familienexterne Kinderbetreuung, aber auch für eine Reform der zweiten Säule ein. Dafür, dass Personen mit Teilzeitpensum oder mehreren Jobs weniger benachteiligt werden.

Die ersten drei Posten ziehen wie im Flug vorbei, ein Schluck Wasser gibt es am Trinkposten am Waldrand, dann wählt Humbel einen kleinen Pfad zurück ins Dickicht. Der falsche – wie sich bald herausstellt. Mitten im Wort bricht Humbel ihre Ausführungen ab und bleibt stehen. «Das ist mir ja so peinlich.» Schnell hat sie sich aber wieder gefangen, Posten fünf erreichen wir sogar in Bestzeit unserer Kategorie.

«Der direkteste Weg ist nicht immer der schnellste»: Ruth Humbel wählt auch mal den Umweg, sowohl im OL als auch in der Politik.
«Der direkteste Weg ist nicht immer der schnellste»: Ruth Humbel wählt auch mal den Umweg, sowohl im OL als auch in der Politik.
Nicole Agostini

Mein Puls rast, 179 Schläge pro Minute zeigt die Sportuhr an, Humbels nur 140. Das liege am Alter, sagt sie. Früher habe sie den Puls noch über 200 gebracht, das schaffe sie jetzt nicht mehr. 

Vor wenigen Wochen hat die Gesundheitspolitikerin ihren 65. Geburtstag gefeiert. Sie habe sich mit dem Älterwerden arrangiert und kenne ihre Grenzen: Hat sie vor einigen Jahren während der Session um sechs Uhr morgens noch eine Joggingrunde eingelegt, gönne sie sich jetzt die Stunde mehr Schlaf.

Lieber Kommissionspräsidentin als Bundesrätin

Auch in der Politik zieht sie klare Linien durch: Anstatt von Kommission zu Kommission zu wechseln, hat Humbel den grössten Teil ihrer Zeit im Bundeshaus in der Gesundheits- und Sozialkommission verbracht. Das brachte ihr grosse Anerkennung für ihr Fachwissen, aber auch den Vorwurf ein, sie sei geradezu detailversessen. Doch das sieht sie gelassen. «Man muss die Politik verfolgen, die seinem Naturell entspricht.»

Sie ist überzeugt: Vertiefte Kenntnisse braucht, wer ein Gesetz erarbeiten will, das in der Praxis funktioniert. «Wenn man das Gefühl hat, man kann in einem Milizparlament mitreden ohne Dossierkenntnisse, dann liegt man einfach falsch.» So mache man sich komplett von der Verwaltung abhängig.

Während Ruth Humbel im Sport für die vordersten Plätze zu brennen scheint, hält sie sich in der Politik lieber in der zweiten Reihe: 2018 lehnte sie eine Nominierung für den Bundesrat ab – sie wolle lieber die Sozial- und Gesundheitskommission präsidieren. «Ich wäre dem Amt Bundesrätin physisch und psychisch nicht gewachsen», sagt sie heute, mit persönlichen Anfeindungen könne sie schlecht umgehen, und für den Sport bleibe bei einem solchen Amt wohl auch keine Zeit mehr. «Das wären für mich zu grosse Abstriche bei der Lebensqualität.»

«Ich will meinen Rücktritt selbst kommunizieren und das habe ich der Partei auch deutlich gesagt.»

Nach 20 Jahren ist für Ruth Humbel nächstes Jahr Schluss mit Bundeshaus. Für die nächste Legislatur tritt sie nicht mehr an. «Eigentlich habe ich mal gesagt, dass ich so lange antrete, bis wir eine Sozialversicherungsreform durchgebracht haben», aber das gehe halt nun nicht mehr, sagt sie und lacht. Ihr letztes grosses Ziel: die AHV-Reform durchbringen, «da müssen wir noch einige Überzeugungsarbeit leisten.» Ein Scheitern der Reform würde das Finanzierungsproblem der AHV verschärfen und einen Schuldenberg zulasten der jungen Generation bewirken, so Humbel. «Das wäre fatal und liegt nicht im Interesse der Frauen.»

Einzelne Parteikollegen hätten ihren Rücktritt gern schon vor der grossen Abstimmung gesehen: Ihr potenzieller Nachfolger, Grossrat Andreas Meier, hatte bereits sein Amt niedergelegt, er werde noch diesen Herbst für Humbel nachrücken, verkündete er im Sommer in den Medien.

Doch er hat die Rechnung ohne Humbel gemacht: «Ich will meinen Rücktritt selbst kommunizieren und das habe ich der Partei auch deutlich gesagt», sagt sie dazu. Die ganze Affäre sei ärgerlich, weil sie alle belaste – «mich, ihn, aber auch die Partei». 

Für Die Mitte wünscht sie sich bei den nächsten Parlamentswahlen, dass die Partei gestärkt wird. «Um vorwärtszukommen, braucht es jetzt ausgewogene Positionen», Extreme würden nur Blockaden begünstigen. «Wenn man nur verhindert und parteipolitische Schlagwörter um sich wirft, dann kommen wir nicht weiter, weder in der Umwelt-, Europa-, noch in der Gesundheitspolitik.»

Nach über eineinhalb Stunden erreichen wir das Ziel.
Nach über eineinhalb Stunden erreichen wir das Ziel.
Nicole Agostini

Ihre sportliche Karriere beendete sie triumphal

Die Politik und der Orientierungslauf scheinen sich wie zwei Parallelen durch Humbels Leben zu ziehen – und auch das Ende verläuft in ähnlichen Bahnen: Im Jahr 1993, lange nach ihrem Rücktritt aus dem internationalen Spitzensport, als sie das Gefühl hatte, sportlich auf die Rückbank geschoben zu werden, gewann sie nochmals die Schweizer Meisterschaften – mit 36.

Plant sie einen ähnlichen Abgang aus der Politik? Ruth Humbel lacht, die Konzentration an wichtigen Geschäften im Gesundheitswesen sei in diesem letzten Jahr sehr hoch. «Für mich ist klar, dass ich mich bis zum letzten Tag mit Überzeugung und vollem Engagement einsetzen werde.»

Und damit erreichen wir das Ziel. Über eineinhalb Stunden haben wir für die 3,5 Kilometer gebraucht.

Im Wettkampfzentrum werden wir dann auch sehnlichst erwartet. Jedoch nicht auf dem Podest, sondern von den beiden Männern, die sich um das Einlesen der Daten kümmern. Dass Ruth Humbel so spät eintrifft, ist ungewöhnlich: «Normalerweise ist sie eine der ersten.»

Immerhin: Wir rangieren auf Platz 19. Von 20.