Interview «Eine zweite flächendeckende Welle wird es nicht geben»

Von Gil Bieler

27.5.2020

Überwachung und schnelles Reagieren – an dieser Corona-Strategie müsse die Schweiz bei weiteren Öffnungsschritten festhalten, sagt Marcel Tanner. Der Epidemiologe über die neue Normalität und Vergleiche mit der Grippe.

Herr Tanner, vier respektive zwei Wochen sind seit den letzten grossen Lockerungsschritten vergangen, die Infektionszahlen sind weiterhin tief: Sind wir über den Berg?

Wir haben gemeinsam sicher vieles erreicht, wie die tiefen Zahlen der neuen Infektionen zeigen. Das weitgehend sehr gute Einhalten der Distanz- und Hygienemassnahmen haben das ermöglicht, und wir dürfen uns darüber freuen. Aber: Wir müssen auch bei weiteren Öffnungsschritten diese Grundmassnahmen beachten und einhalten, damit wir weiter öffnen können. Und wir müssen die neue Normalität leben, das heisst mit dem Virus leben lernen.

Wir sind also sicher über den ersten Berg, doch weitere Berge könnten folgen, falls wir die grundlegenden Massnahmen vergessen und neue Übertragungsherde kreieren und/oder die Überwachung und die zeitnahe Reaktion – die sogenannte Surveillance Response – vernachlässigen.

Zur Person
Foto: STPH

Marcel Tanner ist Präsident der Akademien Schweiz, emeritierter Professor für Parasitologie und Epidemiologie an der Universität Basel und früherer Präsident des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts (Swiss TPH). Er ist Mitglied der Covid-19 Science Taskforce, – das Expertengremium berät den Bundesrat in der Corona-Krise. Tanner erhielt im April den Ehrendoktor der Uni Zürich.

Ihr Kollege Marcel Salathé meint, im Freien sollte man die Abstandsregeln lockern. Dann wären Konzert- und Badibesuche im Sommer also wieder realistisch?

Ja, mit den weiteren Öffnungsschritten per 8. Juni kann die Abstandsregel sicher überprüft werden. Aber das kann erst Ende Juni der Fall sein, weil wir die Effekte von Öffnungsschritten immer erst mit Verzögerung sehen.

In der aktuellen Phase sei das Contact Tracing ‹matchentscheidend›, hat Bundesrat Alain Berset gesagt. Sehen Sie das gleich?

Sicher, ja. Es geht um Testen, Tracing und Isolation/Quarantäne der positiv getesteten Personen und ihrer Kontakte. Diese sogenannten TTIQ-Punkte bilden das Rückgrat der Strategie aus Überwachen und zeitnaher Reaktion.

Die Erfahrung zeigt aber: Wirte nehmen nur ungern Kontaktdaten ihrer Gäste auf, es gab schon illegale Fussballspiele und eine wilde Partynacht in Basel: So kann doch Contact Tracing nicht funktionieren, oder?

Selbst wenn solche Zwischenfälle geschehen, funktioniert die Strategie. Die Grundmassnahmen und die Surveillance Response helfen, diese Übertragungsnester zu lokalisieren – und das erlaubt uns, sofort zu reagieren. Damit wird es keine flächendeckende zweite Welle mehr geben, sondern allenfalls ein regionales Aufflackern, das man gezielt angehen kann. Damit kommt es zu keinem generellen Lockdown mehr.

«Wir sind sicher über den ersten Berg, doch weitere Berge könnten folgen»

Die Contact-Tracing-App des Bundes startet offiziell erst im Juni – ist das nicht etwas spät?

Es ist gerade noch zeitig, denn dann starten auch die weiteren Öffnungsschritte.

Eine Impfung könnte sogar bis 2021 auf sich warten lassen. Gehören Social Distancing und Schutzmasken bis dahin zwangsläufig zu unserem Alltag?

Ja, die Grundmassnahmen zu Hygiene und Distanz gehören dazu. Das gilt auch für Schutzmasken – nicht im Sinne einer generellen Maskenpflicht, aber selektiv, wo die nötige Distanz nicht eingehalten werden kann. Ich denke da an den Pflegebereich, an Heime oder bestimme Produktionsbetriebe, den Bau oder auch die öffentlichen Verkehrsmittel.



Wie sehen Sie die nun angelaufene Öffnung des Grenzverkehrs zu Deutschland und Österreich: Ist das ein vertretbares Risiko?

Dieser Schritt ist sicher richtig und nötig, und wenn die genannte Strategie funktioniert, dann stellt das kein grosses Risiko dar.

Kaum sind die Fallzahlen wieder tief, werden Stimmen laut, das Virus sei nicht schlimmer als eine schwere Grippe. Was sagen Sie dazu aus epidemiologischer Sicht?

Diese Vergleiche wurden oft angestellt, doch es zeigt sich noch immer, dass die Sterblichkeit rund zehnmal höher ist als bei der saisonalen Grippe. Daran hat sich nichts geändert. Die Risikogruppen sind bekannt, und das Risiko nimmt vor allem im Alter zu. Und wir alle haben gesehen, was es bedeutet, wenn der massive Anstieg der Fallzahlen die Gesundheitsdienste an den Anschlag bringt – und damit auch der gesellschaftliche ‹Schaden› bedeutender ist als bei einer Grippewelle. Dafür muss man nur auf die gegenwärtige Situation in Brasilien, Peru oder in den USA blicken, um zu sehen, dass SARS-CoV-2/Covid-19 sicher bedeutender ist als eine Grippe. Und schliesslich wird bei solchen oberflächlichen Vergleichen vergessen, dass wir bei Grippe über eine Impfung verfügen.

Wo stünden wir denn heute ohne Lockdown-Massnahmen?

Sicher nicht dort, wo wir heute stehen – denn mit dem Lockdown gelang es, die Massnahmen zu überdenken und vor allem das Gesundheitssystem funktionsfähig zu halten, um dann eben die Öffnungsschritte gezielt anzugehen. All das erfolgte nicht planlos und es war immer klar, dass früh, aber schrittweise wieder geöffnet werden muss. Aber es brauchte trotz der gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Belastungen in dieser Situation diesen wichtigen Moment des Shutdown, um wieder aufbauend und vorwärtsblickend vorangehen zu können.



Ist das ein Nachteil der Prävention – dass man eben genau nicht sieht, wie viel Schaden verhindert wurde?

Nein, sicher nicht. Man kann die Effekte der Prävention sehr wohl analysieren und ökonomisch wie sozial bewerten – und das wurde und wird getan, dadurch lernen wir auch. Gerade auch jetzt, wenn wir die Schritte der Öffnung, den Ausstieg, schrittweise planen.

Marcel Tanner hat die Fragen schriftlich beantwortet.

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