Berner Epidemiologe Althaus «Ungeimpfte werden sich über kurz oder lang anstecken»

SDA

8.7.2021 - 07:16

Menschen geniessen während der Corona-Pandemie das sommerliche Wetter am See in Zürich: Der Epidemiologe Christian Althaus sagt, es sei wichtig, jungen Leuten zu erklären, dass eine hohe Impfrate der Gesellschaft wieder mehr Freiheiten ermögliche.
Menschen geniessen während der Corona-Pandemie das sommerliche Wetter am See in Zürich: Der Epidemiologe Christian Althaus sagt, es sei wichtig, jungen Leuten zu erklären, dass eine hohe Impfrate der Gesellschaft wieder mehr Freiheiten ermögliche.
Bild: Keystone

Der Berner Epidemiologe Christian Althaus rechnet damit, dass sich in den nächsten zwei Jahren fast alle Ungeimpften mit dem Coronavirus infizieren werden. Besonders die ganz Jungen, die nicht geimpft würden, bräuchten deshalb einen besonderen Schutz. 

Keystone-SDA, SDA

Ungeimpfte werden sich gemäss dem Berner Epidemiologen Christian Althaus früher oder später mit dem Coronavirus anstecken. Sollte das Gesundheitsweisen im Winter wieder stark belastet sein, sei es denkbar, dass das Covid-Zertifikat stärker eingesetzt werde – etwa auch in der Gastronomie. Geschützt werden müssten jetzt besonders die Kinder.

In den nächsten ein bis zwei Jahren werden sich «vermutlich die meisten, die nicht durch eine Impfung oder eine durchgemachte Erkrankung geschützt sind, mit dem Coronavirus anstecken», sagte der Epidemiologe der Universität Bern im Interview mit der «NZZ» von Donnerstag. Die Frage sei, wie sich die Infektionen verteilen werden und ob dies mit Massnahmen gesteuert werden solle.

Christian Althaus ist Epidemiologe am Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM) der Universität Bern und Experte in der Corona-Krise. (Archiv)
Christian Althaus ist Epidemiologe am Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM) der Universität Bern und Experte in der Corona-Krise. (Archiv)
Bild. Keystone

Es sei nicht ganz sicher, ob genügend Personen geimpft seien, um einen starken Anstieg von schweren Erkrankungen zu verhindern, sagte Althaus. Sollte das Gesundheitssystem im Winterhalbjahr wieder stark belastet werden, könne es sein, dass das Covid-Zertifikat als Voraussetzung für Innenräume eingesetzt werde. Dies könne für Ungeimpfte eine Motivation sein, sich doch noch impfen zu lassen.

Kinder in den Schulen schützen

Zudem wäre es auch Sicht des Epidemiologen wichtig, dass man auch den jungen Leuten erkläre, dass eine hohe Impfrate der Gesellschaft – aber auch ihnen selber – wieder mehr Freiheiten ermögliche. Insbesondere müssten jetzt die ganz Jungen geschützt werden. Für Kinder unter 12 Jahren ist noch kein Impfstoff zugelassen – und rund drei Viertel der Kinder seien noch nicht mit dem Virus infiziert worden, sagte Althaus. Sie haben also keine Antikörper.

Weil jetzt ein grösserer Teil der Erwachsenen geimpft sei, zirkuliere das Virus stärker bei den ganz Jungen. Und Kinder können sich gemäss Althaus mehr oder weniger gleich mit dem Virus infizieren und dieses auch ähnlich gut weitergeben wie Erwachsene.

«Wollen wir, dass sich ein Grossteil der Kinder über den Winter infiziert?», stellte der Epidemiologe im Interview die Frage in den Raum. Es bestehe durchaus das Risiko von einigen hundert zusätzlichen Hospitalisationen, sagte Althaus. Glücklicherweise verlaufe die Infektion bei den meisten Kindern sehr milde. «Aber auch bei ihnen kann es in seltenen Fällen zu Long Covid kommen.»

Daher sollten zum Beispiel die Erziehungsdirektionen jetzt Antworten liefern auf die Fragen, ob und wie die Kinder geschützt werden sollen, bis der Impfstoff für sie zugelassen wird. Der Unterricht solle so gut wie möglich aufrechterhalten werden, «ohne dass das Virus völlig unkontrolliert in den Schulen zirkuliert». Dabei spielten Massentests und eine gute Überwachung der Luftqualität in Schulzimmern eine wichtige Rolle.

Saisonale Influenza im Frühling 2022

Althaus geht davon aus, dass sich das Coronavirus ab dem nächsten Frühjahr ähnlich verhalten wird wie eine saisonale Influenza: stärker zirkulierend im Winter, weniger stark im Sommer. Bei Bedarf könne sich die Bevölkerung regelmässig mit einer Auffrischungsimpfung gegen das Virus schützen.

Der Berner Epidemiologe war zunächst Mitglied der wissenschaftlichen Task-Force des Bundes, hatte diese aber im Januar unter Protest verlassen – unter anderem, weil die Politik «endlich lernen müsse, der Wissenschaft auf Augenhöhe zu begegnen», wie er damals sagte. Aus dieser Krise könne jetzt viel gelernt werden. «Die Wissenschaft und die politischen Institutionen sollten sich frühzeitig und gezielt austauschen», sagte der Epidemiologe im Interview.