Abgelehntes GesuchEr zündete sich in Bern selbst an – «Trotzdem will mir keiner helfen»
Von Jennifer Furer
28.8.2020
Wegen eines abgelehnten Asylantrags verlor Behzad Kaikhosravi jegliche Hoffnung und zündete sich auf dem Bundesplatz an. Der Kanton Bern hat ihm nun neue Massnahmen auferlegt.
In Bern zündete sich ein Geflüchteter Ende Juli auf dem Bundesplatz bei einer Demonstration selbst an, nachdem sein Asylantrag abgewiesen wurde. Beim Mann handelte sich um den 34-jährigen Behzad Kaikhosravi, ein Kurde aus dem Iran.
Im Interview mit «Bluewin» sagte Kaikhosravi damals, dass er geflüchtet sei, weil er ein politischer Aktivist sei und verfolgt werde. Vor seinem Suizidversuch habe er einen negativen Entscheid des Staatssekretariat für Migration (SEM) erhalten. «Alles, was ich möchte, ist ein normales Leben zu führen.»
Der Vorfall sorgte für Schlagzeilen. Der zuständige FDP-Regierungsrat Philippe Müller sprach von einer «Show», die von Organisationen aus dem Asylbereich geplant worden sei. Kaikhosravi bestreitet dies.
Rayon- und Demonstrationsverbot
Rund einen Monat später geht es Kaikhosravi nicht besser, wie er in einem erneuten Gespräch mit «Bluewin» sagt. Am 11. August erhielt der Kurde ein Schreiben des Migrationsamts. Darin steht, dass ihm ein Rayonverbot für die Stadt Bern auferlegt wird. Das Migrationsamt schreibt:
«Die verfügte Ausgrenzung aus dem Gebiet der Gemeinde Bern erlaubt es, die Anwesenheit von Behzad Kaikhosravi zu kontrollieren und ihm gleichzeitig bewusst zu machen, dass er sich rechtswidrig in der Schweiz aufhält und nicht vorbehaltlos von den mit einem Anwesenheitsrecht verbundenen Freiheiten profitieren kann.»
Des Weiteren könne Kaikhosravi so davon abgehalten werden, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu stören, heisst es. Seine Grundbedürfnisse könnten auch ausserhalb des Rayons sichergestellt werden. Post erhalten hat Kaikhosravi auch vom Bundesverwaltungsgericht: Weil er mit seinen Rekurs gegen den negativen Entscheid des SEM unterlegen ist, soll er 1’500 Franken Verfahrenskosten bezahlen.
«Niemand hört mir zu»
Kaikhosravi, der sich mittlerweile in einer Unterkunft in Biel befindet, fühlt sich alleingelassen, wie er zu «Bluewin» sagt. Er habe bis heute weder Unterstützung noch eine adäquate psychische Betreuung erhalten. Er sei zwar nach seinem Suizidversuch für kurze Zeit in einer Klinik gewesen und habe danach einmal einen Arzt gesehen, geholfen habe ihm beides aber nicht. «Niemand hört mir zu und niemand nimmt mein Anliegen ernst», sagt Kaikhosravi.
Brauchen Sie Hilfe? Hier können Sie reden.
Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen und für ihr Umfeld da.
Beratungstelefon der Dargebotenen Hand: Telefon 143, www.143.ch
Beratungstelefon Pro Juventute (für Kinder und Jugendliche): Telefon 147, www.147.ch
Weitere Adressen und Informationen: www.reden-kann-retten.ch
Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben:
Refugium – Verein für Hinterbliebene nach Suizid: www.verein-refugium.ch
Nebelmeer – Perspektiven nach dem Suizid eines Elternteils: www.nebelmeer.net
Die Situation sei schlimmer als vorher, so der junge Mann. Es gehe ihm nicht gut. Seine Suizidgedanken hätten nicht abgerissen. «Niemand hat mich gefragt, wie es mir geht. Keiner hat auch nur den Anschein erweckt, mir helfen zu wollen.»
Die Polizei, die ihn nach dem Vorfall auf dem Bundesplatz einvernommen hat, habe lediglich darauf gepocht, dass er nicht mehr demonstrieren und auch nicht mehr mit Journalistinnen und Journalisten sprechen dürfe.
Weiterbildung des Personals
Der Kanton Bern nimmt zu Einzelfällen aus «datenschutz- und persönlichkeitsrechtlichen Gründen» keine Stellung. Sprecher Hannes Schade betont, dass die schwierige Situation abgewiesener Asylsuchender bekannt sei. «Es steht für uns ausser Frage, dass insbesondere Personen mit rechtskräftigem Wegweisungsentscheid aufgrund unsicherer Zukunftsperspektiven grossen psychischen Belastungen ausgesetzt sind.»
Das zuständige Personal werde in Weiterbildungskursen zum Themenfeld «Umgang mit Traumata, professionelle Betreuung, Krisenintervention» für die Thematik «Selbstgefährdung und Suizid» sensibilisiert. «Darüber hinaus wird in regelmässigen Teambesprechungen über Prävention und Umgang mit auffälligen Personen gesprochen, sodass idealerweise erforderliche Massnahmen früh erkannt und eingeleitet werden können», so Schade.
Sohn seit fünf Jahren nicht gesehen
Kaikhosravi sieht das anders. Er werde in seiner Hoffnungslosigkeit allein gelassen und auf ihm laste viel Druck – dieser sei hoch, sagt Kaikhosravi. Auch, weil er seinen krebskranken Sohn, der in Deutschland lebt, seit fünf Jahren nicht mehr habe sehen können. Eine Einreise ins Nachbarland scheint wegen seines illegalen Aufenthalts in der Schweiz kaum möglich.
«Ich brauche kein Geld, nichts, alles, was ich will, ist eine Aufenthaltsbewilligung», sagt Kaikhosravi immer wieder. Er werde dann Deutsch lernen und sich um eine Arbeit kümmern. «Ich will einfach nur wie ein normaler Mensch leben können.»
Kaikhosravi will in den nächsten Wochen zudem versuchen, nach Genf zu reisen. Er hofft, dort bei den Vereinten Nationen (UNO) auf Gehör zu stossen. Wenn das alles nicht klappt, sagt Kaikhosravi, wisse er nicht mehr weiter.
Dilemma der Asylpolitik
Der Fall offenbart das Dilemma, in dem sich die Asylpolitik befindet. Auf der einen Seite stehen Menschen, die keinen Ausweg mehr sehen, auf der anderen Seite soll der Staat das geltende Recht unparteiisch umsetzen. Für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist diese Situation schwierig. Das zeigt ein weiterer tragischer Fall aus dem Kanton Glarus.
Im dortigen Durchgangszentrum für Asylbetreuung hat sich ein 31-Jähriger vor wenigen Tagen das Leben genommen. Kurz zuvor erhielt er einen negativen Entscheid des Staatssekretariats für Migration (SEM).
Andreas Zehnder, Leiter Hauptabteilung Soziales und stellvertretender Asyl- und Flüchtlingskoordinator des Kantons Glarus, sagt zu «Bluewin»: «Wir alle sind tief betroffen, dass er für sich keine Perspektive mehr gesehen hat.»
Sinnvolle Beschäftigung ermöglicht
Es sei der erste solche Fall im Kanton Glarus. «Uns ist bewusst, dass eine Ablehnung des Asylgesuches Menschen, die in ihrer Heimat kein Leben mehr sehen, in grosse Verzweiflung stürzen kann», sagt Zehnder. «Wir wissen ja auch nicht immer, was Asylsuchende in ihrer Heimat und auf der Flucht erlebt haben.»
Es sei bekannt, dass der 31-Jährige psychische Probleme gehabt hätte. «Die notwendige Unterstützung durch Fachpersonen hat er erhalten», so Zehnder. Ausserdem sei es den Involvierten wichtig gewesen, ihm eine sinnvolle Beschäftigung zu ermöglichen – und er war Mitglied in einem Sportverein.
«Das ganze Team der Asylbetreuung ist von diesem Todesfall betroffen. Sie und unsere Asylsuchenden können weiterhin auf unsere Unterstützung zählen. Wir sind im Gespräch mit ihnen», sagt Zehnder weiter. Eine würdige Beerdigung sei organisiert, um vom 31-Jährigen Abschied nehmen zu können.
Begräbnis organisiert
Die Vorgehensweise sorgt beim Migrant-Solidarity-Network, ein Netzwerk aus Migrantinnen und Migranten, Geflüchteten und Solidarischen, auf Kritik. Die Freunde des 31-Jährigen hätten den Leichnam in den Iran schicken wollen, schreibt das Netzwerk auf den sozialen Medien. Ihnen stosse sauer auf, dass die Schweizer Behörden den Leichnam in der Schweiz begraben wollten.
«Dieses schmerzliche Ereignis zeigt, wie sich die Schweiz in ihrer Migrationspolitik von den Prinzipien des Rechts und der Menschlichkeit entfernen kann», heisst es im Beitrag weiter. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) lehne häufig die Asylanträge iranischer Flüchtlinge ab – «und schickt sie in den Iran, in dem die Menschenrechte durch Todesurteile, Folterungen und langfristige Haftstrafen verletzt werden.»
Sich dieser Politik der Schweiz zu widersetzen, sei unabdingbar – «für uns, vor allem für Schweizer Bürgerinnen und Bürger, für Flüchtlinge und Menschen, die in der Schweiz leben».
Alternativen sind vorhanden
Die Fälle im Kanton Glarus und im Kanton Bern zeigen nicht nur das Dilemma der Asylpolitik auf, sondern auch, dass Abgewiesene in ihrem Umfeld eine grosse Lücke hinterlassen – auch, wenn sie sich alleine fühlen. Es gibt Alternativen zum Suizid.
Eine Mehrheit der Geflüchteten aus dem Iran wird in der Schweiz weder aufgenommen noch vorläufig aufgenommen. Hunderte mussten die Schweiz in den letzten Jahren wieder verlassen. Auch wenn die Umstände aussichtslos erscheinen, ist es möglich, sich ein anderweitiges Leben aufzubauen.
Kanton und Bund unterstützen Abgewiesene finanziell mit Nothilfe oder mit einer Rückkehrhilfe. Bei Suizidgedanken können Abgewiesene zudem auf psychologische Unterstützung zählen. «Wir setzen alles daran, Suizide auch von Abgewiesenen zu verhindern. Aber nicht immer sehen wir in die Seele eines Menschen hinein», sagt Andreas Zehnder vom Kanton Glarus.
In Bern wird seit Wochen gegen die neu geschaffenen Rückkehrzentren im Kanton demonstriert. «Für Betroffene bedeuten die neuen Rückkehrzentren eine enorme Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen», heisst es auf der Website des Vereins Solidaritätsnetz Bern. Kritisiert wird, dass die Bewegungsfreiheit und die Lebensqualität massiv eingeschränkt würden.
«Betroffene werden isoliert und der Teilhabe an der Gesellschaft wird gezielt entgegengewirkt. Wir wollen und können dies nicht akzeptieren und sind der festen Überzeugung, dass ein Recht auf Teilhabe nicht vom Aufenthaltsstatus abhängt. Solange jemensch hier lebt, ist er oder sie Teil der Gesellschaft», heisst es auf der Website weiter.