Long-Covid-Folgen «Erkrankt jemand immer wieder, können Arbeitgeber ohne Weiteres kündigen»

Von Andreas Fischer

12.3.2021

Kommt es immer wieder zu krankheitsbedingten Ausfällen, verlieren Schweizer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im schlimmsten Fall ihren Job.
Kommt es immer wieder zu krankheitsbedingten Ausfällen, verlieren Schweizer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im schlimmsten Fall ihren Job.
Christin Klose/dpa-tmn

Bis zu 300'000 Menschen in der Schweiz könnten von den Spätfolgen einer Corona-Infektion betroffen sein und langfristig Symptome entwickeln, die es ihnen immer wieder unmöglich machen, zu arbeiten. Ein Experte erklärt, welche Folgen das hat.

Von Andreas Fischer

12.3.2021

Long-Covid-Syndrom nennt man anhaltende Spätfolgen einer Covid-19-Infektion. Dazu zählen Müdigkeit, Konzentrationsschwäche oder Schmerzen in Muskeln und Gelenken. Eine umfassende Studie des Teams um den Zürcher Epidemiologen Milo Puhan geht davon aus, dass ein Viertel der Corona-Infizierten an Long Covid leiden werden, bis zu 300'000 Menschen könnten in der Schweiz betroffen sein.

Die gesundheitlichen Folgen sind noch nicht absehbar: Betroffene und Gesundheitsorganisationen fordern daher, dass der Bund die Versorgungssituation für Long-Covid-Patientinnen und -Patienten aufzeigen soll. Ein entsprechendes Postulat hat der Ständerat Anfang der Woche mit grosser Mehrheit angenommen. Aufklärungsarbeit zu diesem Thema scheint geboten. Ansonsten, so befürchtet etwa die Allianz Long Covid, würden nicht zuletzt Konflikte am Arbeitsplatz drohen.

«blue News» hat bei Thomas Geiser, Experte für Arbeitsrecht und emeritierter Professor der Universität St. Gallen, nachgefragt, welche arbeitsrechtlichen Folgen eine Erkrankung mit Long Covid haben könnte.

Zur Person
Thomas Geiser, neues Mitglied des Aufsichtsgremiums der Kuoni-Gruppe, posiert nach der ausserordentlichen Generalversammlung von Kuoni Group zur Uebernahme durch die schwedische Beteiligungsgesellschaft EQT, am Montag, 2. Mai 2016, in Zuerich. Die schwedische Beteiligungsgesellschaft EQT hat die Uebernahme der Kuoni-Gruppe unter Dach und Fach gebracht. Auf einer ausserordentlichen Generalversammlung am Montag hat die Private-Equity-Firma den Einzug in den Verwaltungsrat sowie die Statutenaenderung vollzogen. Saemtliche Vertreter des bisherigen Verwaltungsrats sind mit dem Vollzug des Uebernahmeangebots zurueckgetreten. (KEYSTONE/Nick Soland)
KEYSTONE

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Thomas Geiser ist Experte für Arbeits- und Sozialversicherungsrecht. Von 1995 bis zur Emeritierung 2017 war Geiser ordentlicher Professor an der Universität St. Gallen (HSG) für Privat- und Handelsrecht.

Nach allem, was man bislang weiss, können Long-Covid-Patienten immer wieder Symptome entwickeln, die es ihnen unmöglich machen, zu arbeiten. Steht zu befürchten, dass es deswegen Konflikte geben wird zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden?

Geiser: Ich glaube nicht, dass es in dieser Hinsicht Auseinandersetzungen geben wird. Chronische Krankheiten sind an und für sich nichts Neues. Wenn jemand krankheitsbedingt arbeitsunfähig wird, hat er in der Schweiz Anspruch auf Lohnfortzahlung: Wie lange, hängt von der bisherigen Dauer des Arbeitsverhältnisses ab.

Müssen Arbeitnehmende bei mutmasslichen Long-Covid-Folgen nachweisen, dass sie infiziert waren?

Nein, dass müssen sie nicht. Es geht ja nicht um die Frage, was es für eine Krankheit ist oder woher sie kommt. Es geht immer um die Frage, ob eine Person in einem konkreten Moment aufgrund ihres Gesundheitszustandes arbeitsfähig ist oder nicht.

Was aber ist, wenn die Arbeitnehmenden immer wieder so krank werden, dass sie nicht arbeiten können?

Krankheiten mit Langzeiterscheinung könnten zwei Folgen haben. Wird eine Person durch Long Covid immer wieder arbeitsunfähig, dann hat sie bei jeder Arbeitsunfähigkeit erneut Anspruch auf Lohnfortzahlung und kann während dieser Zeit nicht entlassen werden.

Der andere Punkt ist: In der Schweiz besteht grundsätzlich Kündigungsfreiheit. Wenn jemand immer wieder erkrankt, können Arbeitgebende ohne Weiteres das Arbeitsverhältnis kündigen.



Manche Arbeitsrechtler befürchten, dass Arbeitgebende Angestellte mit Long-Covid-Symptomen häufiger zu Vertrauensärzten schicken werden, weil sie ihnen nicht glauben.

Arbeitgebende können unter Umständen durchaus sagen: Ich glaube dem Arztzeugnis nicht, ich glaube nicht, dass meine Angestellte oder mein Angestellter arbeitsunfähig ist. Dann können sie ihre Angestellten in der Tat zu einem Arzt oder einer Ärztin ihres Vertrauens schicken.

Es ist dabei aber ganz klar geregelt, dass Arbeitgebende keinen Anspruch auf eine Diagnose haben. Sie können also nicht bei der Vertrauensärztin anrufen und die Diagnose erfragen. Das geht sie nichts an.

Die Vertrauensärztin des Arbeitgebers kann lediglich bestätigen, dass die Person gesundheitsbedingt arbeitsunfähig ist. Sie kann aber auch sagen, dass eine Arbeitsunfähigkeit aus ihrer Sicht nicht vorliegt. Mehr erfahren die Arbeitgebenden nicht.

Was geschieht, wenn Hausarzt und Vertrauensarzt zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen und Arbeitgebende keinen Lohn mehr zahlen?

Wenn Arbeitnehmende in diesem Fall die Lohnfortzahlung einklagen wollen, müssen sie nachweisen, dass sie krankheitsbedingt arbeitsunfähig waren. Diesen Nachweis erbringen sie mit dem Zeugnis des Hausarztes. Reicht dem Gericht das Zeugnis nicht aus, dann kann es den Hausarzt als Zeugen einvernehmen, der dann allenfalls vom Patienten vom Arztgeheimnis entbunden werden muss.

Inwieweit ist es ein Problem, dass bei Long Covid die medizinische Faktenlage zurzeit noch unklar ist?

Ich weiss natürlich nicht, auf welche Ideen die Gerichte noch kommen werden. Bei gewissen Schmerzerkrankungen, die nicht mit diagnostischen Mitteln nachweisbar sind, hat das Bundesgericht eine komplizierte Rechtssprechung entwickelt, unter welchen Voraussetzungen sie bei der Invalidenversicherung akzeptiert werden. Aber dabei geht es eben nicht um kurzfristige Arbeitsunfähigkeit.

Im Wesentlichen geht es darum, ob eine Beeinträchtigung objektiv feststellbar ist oder lediglich aufgrund der individuellen Aussagen der Patienten. Solange die Arbeitsunfähigkeit mit objektiven Kriterien feststellbar ist, ist die Situation vollkommen klar. Bei einer nur subjektiv feststellbaren Beeinträchtigung glaubt man den Patienten eher nicht. Und es gibt noch eine andere Sache, die heikel ist.

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Ich weiss nicht, ob langfristige Covid-Folgen überhaupt zu einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit führen. Es ist auch möglich, dass sie ‹nur› zu einem Leistungsabfall führen.

Das würde für Arbeitgebende bedeuten: Sie bekommen weniger Leistung fürs Geld?

Richtig. In diesem Fall ist es aber so, dass die Arbeitnehmenden immer noch ihre Leistung abliefern. Es ist also völlig klar, dass die Arbeitgebenden den Lohn bezahlen müssen, auch wenn sie dafür eine verminderte Leistung bekommen. Das allerdings könnte zur Folge haben, dass Arbeitgebende unter Umständen das Arbeitsverhältnis kündigen. Und das dürften sie aus rechtlicher Sicht auch.

Krank werden ist nie eine gute Aussicht. In der Schweiz gibt es zwar eine durchaus vertretbare Absicherung gegen Arbeitslosigkeit, Unfälle und für das Alter, aber keine gegen Krankheiten. Es besteht kein Obligatorium für eine Krankentaggeldversicherung: Das Einkommen ist im Krankheitsfall nicht abgesichert, selbst bei diagnostizierbaren Krankheiten wie Krebs nicht. Wenn der Anspruch auf Lohnfortzahlung vorüber ist, dann stehen die Betroffenen mit leeren Händen da.