Staatsanwältin «Es ist eines der schrecklichsten Videos, das ich je sichten musste»

Von Jennifer Furer, Bellinzona

11.8.2020

Der Prozess gegen die zwei Schweizer mutmasslichen IS-Mittelsmänner ist auf drei Tage angesetzt.
Der Prozess gegen die zwei Schweizer mutmasslichen IS-Mittelsmänner ist auf drei Tage angesetzt.
Bild: Keystone

Am zweiten Tag im Islamisten-Prozess hielten die Staatsanwaltschaft und der Verteidiger der mutmasslichen Schweizer IS-Anhänger ihre Plädoyers. Dabei ging es auch um Videos von Enthauptungen und Erschiessungen.

Schwarzer Anzug, weisses Hemd, gelbe Krawatte: In dieser Aufmachung plädierte der Verteidiger des Hauptbeschuldigten im Islamisten-Prozess vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona. Er forderte einen vollumfänglichen Freispruch und eine Genugtuung von knapp 60'000 Franken für seinen Mandanten, einen mutmasslichen Schweizer IS-Anhänger, aus der Staatskasse. Zudem verlangte er die Streichung aller Ersatzmassnahmen.

Diese wurden angeordnet, nachdem der Hauptbeschuldigte im Islamisten-Prozess am 14. Februar 2017 aus seiner einjährigen Untersuchungshaft entlassen wurde. Seit diesem Zeitpunkt wurde er vom Gewaltschutz des Kantons Zürich begleitet und musste dessen Anordnungen einhalten. Auch ein jederzeitiger und unangekündigter Zugang zu seinen bewohnten Räumlichkeiten, Fahrzeugen und Informatikmitteln müsse gewährleistet sein.

Kritik am Verfahren

In seinem Plädoyer holte der Verteidiger Stephan Buchli zum Rundumschlag gegen die Bundesanwaltschaft aus. Er kritisierte nicht nur die lange Verfahrensdauer von fünfeinhalb Jahren, sondern auch die Missachtung des Beschleunigungsgebots. Dieses müsse gelten, sobald einem Beschuldigten einschneidende Ersatzmassnahmen auferlegt werden.

Auch der Untersuchungsgrundsatz sei geritzt worden, so Buchli. Dieser besagt, dass sowohl belastende wie auch entlastende Beweise gesucht werden müssen. «Die Bundesanwaltschaft hat den belastenden aber stets mehr Gewicht zugeschrieben als den entlastenden», sagte der Verteidiger.

Buchli monierte, dass die Verfahrensrechte seines Mandaten massiv verletzt worden seien, da von ihm geforderte Akteneinsichten zu spät gewährt worden seien und ein Zettel aus seiner Zelle beschlagnahmt worden sei, der für den Verteidiger gedacht gewesen wäre.

Beim Hauptbeschuldigten handelt es sich um einen 34-jährigen Familienvater.
Beim Hauptbeschuldigten handelt es sich um einen 34-jährigen Familienvater.
Keystone

Der Verteidiger warf der Bundesanwaltschaft ausserdem vor, sich bei ihrer Recherche über den IS, beziehungsweise dessen Vorgänger- oder Teilorganisationen, auf Medienberichte und ausländische Behörden gestützt zu haben. Die Quellen vieler Informationen blieben schleierhaft. «Ich frage mich schon, wieso kein unabhängiger Sachverständiger beigezogen wurde, der eigene Beweismittel hergestellt hätte», so Buchli.

«Keine kriminelle Organisation»

Die Staatsanwältin wirft dem Beschuldigten vor, sich der Jamwa, laut ihr eine Kampfeinheit des IS und somit eine kriminelle Organisation, angeschlossen zu haben. Dies sah Verteidiger Buchli ganz anders.

Zum einen handle es sich bei der Jamwa für den relevanten Tatzeitpunkt nicht um eine kriminelle Organisation, wie sie das Schweizer Gesetz definiert. Sie habe zu der Zeit, als der Beschuldigte in Syrien war, noch keinen Treueid auf den IS abgelegt.

Zudem könne die Staatsanwaltschaft nicht belegen, dass sein Mandant sich «systematisch» an einer kriminellen Organisation beteiligt oder den Plan gehabt habe, sich einer solchen anzuschliessen, so Bucheli. «Es gibt dazu keine Beweise.»

Was bisher geschah

Am Montag wurden die beiden Beschuldigten vom Gericht vernommen. Dem ersten Beschuldigten wird vorgeworfen, in Syrien für den Islamischen Staat (IS) beziehungsweise dessen Vor- oder Teilorganisationen gekämpft und Menschen aus dem Umfeld der umstrittenen Winterthurer An'Nur-Moschee für den Dschihad in Syrien rekrutiert zu haben.

Laut der Anklage hat der Islamische Staat zum Zeitpunkt des Aufenthalts des Beschuldigten in Syrien «unzählige terroristische Aktivitäten» begangen – etwa gegen Zivilisten gerichtete Selbstmordattentate, den Einsatz von Chemiewaffen, sexuelle Gewalt gegen die Bevölkerung oder Exekutionen.

Dem 34-jährigen Beschuldigten wird zudem zur Last gelegt, einschlägiges Propagandamaterial hergestellt sowie Gewaltdarstellungen besessen zu haben.

Der Beschuldigte bestritt die Vorwürfe.

Zweiter Beschuldigter

Vor dem Bundesstrafgericht muss sich ein zweiter Beschuldigter verantworten. Auch er wurde am Montag vom Gericht befragt. Dem 36-Jährigen wirft die Bundesanwaltschaft vor, sich an einer kriminellen Organisation beteiligt zu haben, im Besitz von Gewaltdarstellungen gewesen zu sein, Pornografie besessen sowie sexuelle Handlungen mit Kindern vollzogen zu haben.

Laut der Bundesanwaltschaft wollte sich der Mann ebenfalls dem IS in Syrien anschliessen. Allerdings sei er in Mazedonien an seiner Reise nach Syrien gehindert worden.

Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass er mit einer damals noch 15-Jährigen intim geworden sei. Die 15-Jährige soll sich zusammen mit ihrem Bruder radikalisiert haben und nach Syrien gereist sein.

Der Beschuldigte bestritt die Vorwürfe. Auch die damals 15-Jährige bestritt vor Gericht, mit dem Mann intim oder gar schwanger geworden zu sein. Sie wurde wie ihr Vater und ihre Schwester als Zeugin vernommen.

Staatsanwaltschaft fordert Gefängnis

Die Staatsanwältin Juliette Noto forderte in ihrem Plädoyer am Dienstag für den ersten Beschuldigten eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten. Zudem soll er für die gesamten Verfahrenskosten aufkommen.

Für den zweiten Beschuldigten verlangt die Staatsanwältin eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten.

Auch die Fotos des Beschuldigten, die ihn bewaffnet zeigen, würden nichts beweisen, sagte Verteidiger Buchli. Erstens, weil auf diesen nicht ersichtlich ist, dass der Beschuldigte Kampfkleidung trage, die auf eine Beteiligung an einer kriminellen Organisation schliessen würde. «Es ist kein Logo oder ein sonstiger Hinweis auf eine kriminelle Organisation auszumachen», sagte Buchli.

Die Waffen, die er trage, seien zudem solche, die von diversen Organisationen und Staaten eingesetzt würden. Auch sie würden nicht auf eine Beteiligung an einer kriminellen Organisation, geschweige denn, auf eine Beteiligung am IS, beziehungsweise dessen Teil- oder Vorgängerorganisationen schliessen lassen.

«Es herrschte Bürgerkrieg»

Der Verteidiger führte weiter aus, dass es keinerlei Hinweise auf einen Kampfeinsatz gebe. Auf einigen Fotos trage der Beschuldigte eine modische Umhänge-Ledertasche oder eine Pilotenbrille. Seinem Mandanten sei es nur ums Posieren gegangen.

Dass der Beschuldigte Wachdienste geleistet hat, bestritt der Verteidiger hingegen nicht. «Es herrschte Bürgerkrieg. Es liegt nicht fern, dass Wachdienste von sämtlichen Gruppierungen in der Region ausgeführt worden sind.»

«Seine Frau wollte in einem guten Licht dastehen»

Ein weiterer Punkt ist laut Buchli, dass bis heute unklar sei, wo und bei wem sich der Beschuldigte aufgehalten habe. Fakt sei, so der Verteidiger, dass er nicht in ein IS-beherrschtes Gebiet gereist sei.

Die Frau des Beschuldigten habe sich mit ihren Nachrichten an eine Freundin, in der sie von einem Trainingscamp spricht, nur profilieren wollen, so Verteidiger Buchli. «Es erhöhte ihr Prestige, sie wollte in einem guten Licht dastehen.»

Buchli betonte, dass der Beschuldigte zudem nicht einfach seine Koffer hätte packen und zurück in die Schweiz reisen können, wäre er beim IS gewesen. Ausserdem hätte er sich nicht bei zwei IS-Kämpfern nach den Bedingungen erkundigt, wenn er selbst schon einmal dort gewesen wäre. Eine langfristige Niederlassung in Syrien sei zudem nicht geplant gewesen, führte Buchli aus.

Koranverteilaktion in Schweiz erlaubt

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Beschuldigten nicht nur die Beteiligung an einer kriminellen Organisation vor, sondern auch, Leute dafür rekrutiert zu haben – unter anderem mit der Koranverteilaktion «Lies!» oder einem Winterthurer Kampfsportstudio.

Verteidiger Buchli dementierte dies in seinem Plädoyer. Es gebe keine Beweise, dass sein Mandant, diese Projekte geleitet habe. Zudem sei die Aktion «Lies!» zwar in Deutschland verboten, nicht aber in der Schweiz. «Es gibt keine Beweise, dass mittels der Koranverteilaktion oder dem Kampfstudio Menschen für den bewaffneten Jihad rekrutiert oder Leute dazu motiviert worden sind», sagte Buchli.

Ausserdem fehle in der Anklageschrift eine zureichende Umschreibung, wie sein Mandant konkret Menschen rekrutiert haben soll, so der Verteidiger.  Somit sei der Sachverhalt nicht erstellt.

Inzwischen habe sich sein Mandant vom radikalen Islam distanziert. Seine Deradikalisierung sei erfolgt, nachdem er eingesehen habe, was der IS für einen Schaden anrichte, sagte der Beschuldigte am Montag selbst bei seiner Befragung aus. Sein Verteidiger sagte, dass er inzwischen das obligatorische Freitagsgebet auslasse und dieses Jahr das Fasten ausgelassen habe.

«Pädophiler und schlagender Extremist»

Auch vom Verteidiger des zweiten Beschuldigten, Dominic Nellen, gab es eine Schelte für die Bundesstaatsanwaltschaft. Er forderte ein vollumfänglicher Freispruch. Zudem soll der Beschuldigte eine Genugtuung von 10'000 Franken erhalten und 5000 Franken sollen ihm entschädigt werden.

In seinem Plädoyer führte Verteidiger Nellen aus, dass er nicht nachvollziehen könne, weshalb die Behörde beim Vorwurf eines Sexualdelikts das angebliche Opfer nie befragt hat.

Neben dem Hauptbeschuldigten sitzt ein weiterer Angeklagter vor dem Bundesstrafgericht.
Neben dem Hauptbeschuldigten sitzt ein weiterer Angeklagter vor dem Bundesstrafgericht.
Keystone

Wie sein Vorredner kritisierte der Verteidiger des zweiten Beschuldigten, dass es der Bundesanwaltschaft vor allem darum ging, seinen Mandant in ein schlechtes Licht zu rücken. «Es ging nur darum, das Bild eines Pädophilen und schlagenden Extremisten zu zeichnen», so Nellen.

Entlastende Beweise seien auch hier kaum berücksichtigt worden, Vorwürfe kaum begründet und die Quelle von Behauptungen nicht aufgeführt worden.

Automatischer Download

«Die 15-Jährige sei emotional an meinen Beschuldigten gebunden gewesen. Wo entnimmt man das?», fragte Nellen suggestiv. Der Verteidiger beantwortete seine Frage gleich selbst: «Nirgends. Weil es nicht stimmt.» Es gebe kein Opfer, keine sexuellen Handlungen und keine Schwangerschaft. Das habe das angebliche Opfer selbst ausgesagt.

Nellen führte weitere Beispiele an. «Mein Mandant soll den IS unterstützt haben. Wo entnimmt man das?» Auch hier gebe es keine Quelle – weil es nicht stimme. Er sei zwar nach Mazedonien gereist, aber nur um seinen Pass abzuholen.

Dass er auf dem Weg gewesen sei, sich dem IS anzuschliessen, könne nicht beweisen werden. Ein Versuch sich an einer kriminellen Organisation bleibe ausserdem ohnehin straflos, so Verteidiger Nellen.

Zu den pornografischen Bilder und die Gewaltdarstellung, meinte Verteidiger Nellen, dass sein Mandant diese nicht für den eigenen Gebrauch heruntergeladen habe. Vielmehr seien diese durch einen automatischen Download auf den Informatikgeräten des Beschuldigten gelandet.

«An Abscheulichkeit kaum zu überbieten»

Vor den beiden Verteidigern hatte die Staatsanwältin bereits plädiert. Sie forderte für den Hauptbeschuldigten eine Freiheitsstrafe von 3,5 Jahren und für den zweiten Beschuldigten eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 10 Monaten.

«Angesichts von Corona neigen wir dazu, die Gräueltaten des IS zu vergessen. Fakt ist: Der Beschuldigte war zum Höhepunkt der Terrororganisation die Hauptfigur des IS in der Schweiz gewesen», sagte die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer.

Der Beschuldigte habe ein Video besessen, das an Abscheulichkeit nicht zu überbieten sei. «Es ist eines der schrecklichsten Videos, das ich je sichten musste», so die Staatsanwältin. Ein normaler Mensch hätte das Video gelöscht.

Auch der zweite Beschuldigte habe Gewaltdarstellungen und gar verbotenes pornografisches Material besessen. Dazu sagte die Staatsanwältin: «An Abscheulichkeit und Gewaltverherrlichung sind die Darstellungen kaum zu überbieten.» Sie seien nur schwer zu ertragen.

Mit den drei Plädoyers endete der wohl wichtigste Schweizer Islamisten-Prozess. Das Gericht zieht sich nun zur Beratung zurück. Das Urteil soll in den kommenden Wochen erfolgen.

Mehr zum Plädoyer der Staatsanwältin lesen Sie hier:


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