Experte zur Neutralitätsinitiative«Wenn das wirklich so wäre, würde sich die Schweiz lächerlich machen»
Von Maximilian Haase
26.7.2022
Die Schweiz soll künftig keine Sanktionen mehr ergreifen dürfen, fordert SVP-Stratege Christoph Blocher. Was ein Erfolg seiner Neutralitätsinitiative bedeuten würde, erklärt Politikwissenschaftler Sean Müller.
Von Maximilian Haase
26.07.2022, 00:00
Von Maximilian Haase
Geht es nach Christoph Blocher, soll die Schweiz sich zukünftig nicht nur aus militärischen Konflikten heraushalten, sondern zudem auch keinerlei Sanktionen mehr erteilen dürfen. Mit seiner Neutralitätsinitiative will der SVP-Vordenker dafür sorgen, dass «die da oben auch hinter der Neutralität stehen müssen und nicht willkürlich die Schweiz in den Krieg treiben können», wie er in einem Interview mit «Blick» sagte.
Was würde es für die Schweizer Neutralität überhaupt bedeuten, sollte sich Blocher mit der Initiative durchsetzen? Welche Folgen hätte ein grundsätzliches Sanktionsverbot? Und wie stehen die Chancen für die Volksinitiative der SVP? Der Politikwissenschaftler Sean Müller von der Universität Lausanne ordnet ein.
Herr Müller, was würde ein Erfolg der Initiative von Herrn Blocher für die Schweiz und die Neutralität grundsätzlich bedeuten?
Zur Person
Sean Müller / zVg
Sean Müller ist Assistenzprofessor am Institut für politische Studien der Universität Lausanne. Er forscht vor allem zu Schweizer Politik, Föderalismus und direkter Demokratie.
Ohne zum jetzigen Zeitpunkt den genauen Initiativtext zu kennen, vermute ich, dass auch eine Annahme durch Volk und Stände erst mal nichts verändern würde. In der Regel müssen Verfassungsänderungen auf Gesetzesstufe konkretisiert werden. Dort werden zum Beispiel Begriffe geklärt – wann und was ist Krieg, was sind Sanktionen und welche Art gibt es? Solche Anpassungen muss das Parlament vornehmen, etwa am bestehenden Embargogesetz. Aber das Volk kann durch fakultatives Referendum erneut dazu aufgerufen werden, abschliessend zu entscheiden. Auch in der Aussenwahrnehmung würde sich vermutlich wenig ändern: Die Schweiz ist seit eh und je als neutrales Land bekannt und würde dies ja lediglich bekräftigen. Der Newsgehalt eines solchen Ereignisses ist eher gering.
Würde die Initiative also überhaupt etwas ändern?
Das kommt ganz auf den Text beziehungsweise die gesetzliche Umsetzung an. Aus den Äusserungen Herrn Blochers zu schliessen, geht es ihm vor allem um die wirtschaftlichen und personellen Sanktionen, also zum Beispiel Einreiseverbote. Die Schweiz hätte keine solche erlassen dürfen. Gleichzeitig soll aber eine Umgehung solcher Sanktionen via die Schweiz verunmöglicht werden. Wie das nun konkret mit Einreisekontrollen in den Schengenraum via die Flughäfen Zürich oder Genf funktionieren soll, ist mir schleierhaft: Will Herr Blocher etwa, dass ausgerechnet die neutrale und souveräne Schweiz als Handlangerin anderer Staaten alle russischen Pässe kontrolliert und entsprechend sanktioniert?
Würde ein grundsätzliches Sanktionsverbot die Schweiz angreifbarer machen – oder könne sie dann, wie Blocher sagt, sich glaubwürdig für den Weltfrieden einsetzen?
Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine kam der Bundesrat von zwei Seiten unter Druck: von aussen, durch andere Staaten und internationale Organisationen, und von innen, etwa durch eine grosse Friedensdemo in Bern. Ich habe bis jetzt noch keine nennenswerte Demo gegen die Sanktionen gesehen. Wenn also Herr Blochers Initiative im Februar 2022 bereits in Kraft gewesen wäre, hätte der Bundesrat genau das nicht tun können, was eine grosse Mehrheit des Schweizer Volkes wollte und noch will.
Zudem hat die Schweiz in Europa durch die Übernahme der Sanktionen politisch viel Boden gutgemacht. Durch den einseitigen Abbruch der Verhandlungen zum InstA und die Art des Kampfflugzeugentscheids war viel Geschirr kaputtgegangen. Das zeigt, wie schwierig es ist, auf rechtlichem Wege künftige politische Entscheide steuern zu wollen.
Vor der Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland mahnten viele Stimmen: Wenn die Schweiz nicht mitzieht, werde sie selber sanktioniert. Ist das ein realistisches Szenario?
Auch andere Staaten sahen sich dem gleichen doppelten Druck von innen und aussen ausgesetzt. Ohne Übernahme hätte sich die Schweiz sicher keine Freunde gemacht und je nach Land zusätzlich antagonisiert. Wie dort allerdings die rechtliche Basis für Sanktionen gegen ein friedliches und neutrales Land aussieht, weiss ich nicht. Aber man sollte die Kreativität politischer Entscheidungsträgerinnen und -träger nicht unterschätzen. Vor allem wenn dadurch einer breiten Antipathie gegen mögliche Kriegsgewinnler Form gegeben wird.
Wie ist der Vorwurf, die Schweiz breche durch die Sanktionen gegen Russland das Neutralitätsgebot, einzuschätzen?
Ich glaube, dazu haben sich bereits viele in diesen Dingen fähigere Personen geäussert. Für mich ist Neutralität vor allem militärisch: keine direkte oder indirekte Teilnahme an militärischen Handlungen.
Soll die Flexibilität, mit der ja auch die Sanktionen begründet wurden, abgeschafft werden?
Eine gewisse Flexibilität besteht immer. Verfassung und Gesetze regeln nie alles vollständig oder abschliessend. Klar, die Hürde für entsprechende Handlungen beziehungsweise deren Begründung würde erhöht. Aber gerade das Hintertürchen der Vermeidung von Umgehungsstrategien, wie immer es denn konkret ausformuliert wird, bliebe bestehen.
Die Schweiz könnte, sollte die Initiative erfolgreich sein, keine UNO-Sanktionen mehr übernehmen: Was wären die Folgen?
Wenn das wirklich so wäre, würde sich die Schweiz lächerlich machen. Ausgerechnet der Depositarstaat der Genfer Konventionen könnte auch bei den klarsten Verstössen dagegen nicht Stellung beziehen? Die SVP wollte ja nicht einmal eine entsprechende parlamentarische Erklärung. Es ist fast schon eine Kunst, auch bei klarem Schwarz und Weiss noch vermeintliche Grautöne auszumachen. Die Güter-, Finanz- und Reisesanktionen gegen Venezuela etwa scheinen Herrn Blocher ja auch nicht zu stören.
Die Schweiz solle nur die Umgehung von Sanktionen verhindern, findet Blocher. Ist das noch ein zeitgemässes Prinzip?
Falls die Unterschriftensammlung klappt, werden Volk und Stände dereinst entscheiden, ob es für die Schweiz zeitgemäss ist. Ich fände allein schon die Umsetzung schwierig. Aber wir sollten das breit diskutieren, klar. Herr Blocher hat natürlich das Recht auf seine Meinung. Ob es aber im Interesse der SVP ist, dass er sie damit vor sich her treibt, ist eine andere Frage.
Das Volk stehe hinter der Neutralität, die classe politique missachte sie, sagt Blocher. Ist dies eine erfolgversprechende Strategie, um die Initiative durchzusetzen?
Natürlich, wenn dem denn so wäre. Das schien mir bei der Abzockerinitiative 2013 der Fall. Jetzt allerdings ist mein Eindruck der eines breiten Konsenses zum gegenwärtigen Kurs. Wenn Herr Blocher über widersprechende Umfrage- oder andere Daten verfügt, würde ich die sehr gerne einsehen.
Bei welchen Bevölkerungsgruppen kann die SVP sich mit diesem Thema profilieren?
Ich glaube nicht, dass mit dieser Frage gross gepunktet werden kann. Für das Anliegen Herrn Blochers werden wohl vor allem treue SVP-Wählerinnen und -Wähler stimmen. Darüber hinaus haben es technisch-institutionelle Fragen wie auch diese hier sehr schwer. Die in eine ähnliche Richtung zielende Selbstbestimmungsinitiative kam 2018 auf lediglich 34 Prozent Ja-Stimmen, die Initiative «Staatsverträge vors Volk!» 2012 gar nur auf 25 Prozent Ja-Stimmen.
Welche Chancen sehen Sie für den Vorstoss Blochers?
An der Urne: keine grossen. In den Medien, vor allem im Sommerloch: sehr grosse.
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