Neue FreiheitenFür Stubenhocker wird's jetzt ungemütlicher
Von Gil Bieler
3.2.2022
Zurück ins Büro, zurück zum Alltag: Der Gedanke an die neuen Corona-Freiheiten versetzt bei Weitem nicht alle in Entzücken. Vom Festhalten an einer wohldosierten Menschenscheu.
Von Gil Bieler
03.02.2022, 11:29
03.02.2022, 15:15
Gil Bieler
«Was ist denn, wenn man keine Lust mehr auf Normalität hat?», fragt ein junger Mann neulich auf Twitter. Es dauert nicht lange, da meldet sich eine Gleichgesinnte zu Wort: «Hey, ich bin nicht allein mit diesem Gedanken.»
Ganz im Ernst? Ich verstand auf Anhieb, was gemeint ist. In zwei Jahren Pandemie mussten wir alle unser Sozialleben neu organisieren, es neu bewerten. Und während sich gefühlt jede und jeder eine Rückkehr zur Vor-Pandemie-Normalität herbeisehnt, wird gern übersehen: Manche haben sich mit der sozialen Zurückgezogenheit auch ganz gut arrangiert. Und würden das gern etwas länger beibehalten.
Ich zumindest verstehe jede und jeden, die nicht zur alten Hektik zurückkehren wollen. Die Fear of missing out, dieses Nachjagen nach Verabredung hier und Ausgang da, das fehlt mir überraschend wenig. Eigentlich so gar nicht. Ein Buch und die Couch, mehr braucht's doch nicht.
So geht es vielen. Fachleute sprechen vom Cave-Syndrom. Darin enthalten ist das englische cave: die Höhle, in der man sich weiterhin verkriechen möchte.
Eine gewisse Menschenscheu, die könnte man sich doch gut bewahren. Wäre nicht das Schlimmste, oder? Natürlich nur wohldosiert. Doch für Stubenhocker wird es nun ungemütlicher, denn die pandemie-bedingten Ausreden fallen weg. «Ich würde ja gern, aber die Pandemie …» – solche Ausflüchte haben ausgedient. Die Homeoffice-Pflicht wurde bereits heute zur Empfehlung abgeschwächt, und auch die anderen Einschränkungen will der Bundesrat in absehbarer Zeit streichen. Vielleicht schon per 17. Februar, wenn es das Virus zulässt.
Brauchst du Hilfe?
Hat die Angst vor sozialen Kontakten zwanghafte Züge angenommen, ist professionelle Hilfe angezeigt. Hilfe bieten unter anderem die Dargebotene Hand www.143.ch, die Plattform Dureschnuffe dureschnufe.ch und Inclousiv inclousiv.ch.
Warum manche mit dem Zurück zur Normalität hadern, erklärt Robert Levenson, Psychologie-Professor an der Universität im kalifornischen Berkeley, wie folgt: «Das war nicht nur ein Wochenende lang zu Hause bleiben. Das waren fast zwei Jahre unseres Lebens, und wir haben uns nun daran angepasst.» Jetzt gehe es darum, seine Wohlfühlzone wieder zu verlassen: «Wir müssen wieder entdecken, wie wir unter anderen funktionieren, zu spielen, Leute zu treffen, neue Beziehungen aufzubauen und andere zu beenden.» Das sei eine grosse Herausforderung.
Doch eben, manche wollen all das ja gar nicht. Was nicht zwangsläufig ein Problem sein muss, spiegeln sich darin doch mehrere erprobte menschliche Verhaltensmuster wider: das Vermeiden von Risiken, der Wunsch nach Kontrolle und die Bevorzugung des Status quo. So argumentiert die indische Forscherin Akshaya Balaji in einem Beitrag für «The Wire».
Was kann ich tun, wenn ich im Homeoffice bleiben will?
Ab Donnerstag gilt bereits wieder Homeoffice-Empfehlung statt -Pflicht. Muss ich gleich wieder im Büro antraben? Unter welchen Bedingungen darf ich weiterhin zuhause arbeiten? Das sagt der Rechtsexperte.
02.02.2022
Am Ende ist es wie so oft im Leben eine Frage des Typs: Den einen kann es mit der Rückkehr zur Normalität nicht schnell genug gehen, die anderen fühlen sich mittlerweile ganz wohl im Pandemie-Alltag. Oder sind generell nicht begeistert von Veränderungen.
Wer es trotz Lockerungen weiterhin ruhig angehen will, muss mit den neuen Lockerungen besser argumentieren. Man kann sich eventuell auf einen aktuellen Trend berufen. Lieber weniger, dafür gute Freundschaften – der sogenannte Relationship Minimalism sei gerade bei jüngeren Menschen angesagt, schreibt das «Philosophie Magazin».
Das Sozialleben ausmisten, genauso wie wir es mit Kleiderschrank und Keller tun: So ansprechend dieser Gedanke auch klingen mag, bei genauerer Betrachtung offenbart er durchaus Schwächen: Schliesslich würden «Zeit und Energie zu einer Währung verschmolzen und Freundschaften nach einer Marktlogik gemessen», heisst es in dem Artikel. «Beziehungen aller Art müssen demnach genug Glück produzieren, um die kostbare Zeit und Energie buchstäblich wert zu sein.»
Hmm. Eine arg gefühlskalte Vorstellung von guten Beziehungen. Vielleicht ist es doch gar nicht so schlecht, sich mal wieder unter die Leute zu mischen. Und stattdessen WhatsApp löschen oder wenigstens ab und zu wieder einmal – wir erinnern uns schwach an einen Trend aus der Zeit vor der Pandemie – digital detoxen.
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