Vierfachmord Rupperswil «Ich sagte nur, dass sie auf eine barbarische Art umgebracht wurden»

Von Jennifer Furer

31.8.2020

Ein Polizeioffizier der Kantonspolizei Aargau wurde vom Vorwurf freigesprochen, Täterwissen im Zusammenhang mit dem Vierfachmord in Rupperswil herumerzählt zu haben. Am Prozess kam ein neues Detail zum Verbrechen ans Licht.

Es war Weihnachten im Jahr 2015, vier Tage nach dem aufsehenerregenden Vierfachmord in Rupperswil, als sich eine Familie und ihre Freunde zum Fest trafen. Die Opfer des grausamen Verbrechens kannte man in der Runde, vom Sehen her oder gar persönlich. Die Tat war demnach ein grosses Thema an der Weihnachtsfeier, wie Beteiligte vor dem Bezirksgericht Baden am Montag aussagten.

Die interne Familienfeier wurde zum Gegenstand der Justiz, weil an dieser Täterwissen im Zusammenhang mit dem Vierfachmord in Rupperswil besprochen worden sein soll. Konkret soll der Ex-Schwiegersohn des heute 64-jährigen beschuldigten Polizeioffiziers der Kantonspolizei Aargau später herumerzählt haben, dass den vier Opfern die Kehle durchgeschnitten wurde.

Dieses Wissen war zu diesem Zeitpunkt nur auserlesenen Personen zugänglich. Nämlich jenen, die direkt in die Ermittlungen des Vierfachmords involviert gewesen waren, also auch dem beschuldigten Polizeioffizier der Kantonspolizei Aargau.

Woher stammte Täterwissen?

Die Staatsanwaltschaft erfuhr bei einer ihren vielen Einvernahmen im Zusammenhang mit dem Verbrechen, dass jemand das Täterwissen ausgeplaudert haben muss. Sie versuchte darauf, die Quelle der Informationsverbreitung herauszufinden.

Der Schluss lag nahe, dass der Ex-Schwiegersohn des Polizeioffiziers an die Information um die durchgeschnittenen Kehlen gelangt ist, weil er es direkt oder indirekt durch den Beschuldigten erfahren hatte.

Der Täter von Rupperswil schnitt die Kehle der vier Opfer durch. Er wurde zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt und wird ordentlich verwahrt.
Der Täter von Rupperswil schnitt die Kehle der vier Opfer durch. Er wurde zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt und wird ordentlich verwahrt.
Keystone

Am Montag musste Christian Bolleter, Gerichtspräsident des Bezirksgerichts Baden, entscheiden, ob dieser Schluss zulässig ist und der Polizeioffizier wegen der Verletzung des Amtsgeheimnisses zu verurteilen sei oder nicht.

Ex-Schwiegersohn: Beschuldigter soll verurteilt werden

Dafür zog er die Aussagen von Zeugen herbei, die vor Gericht am Montag einvernommen wurden. Zum einen war dies der Ex-Schwiegersohn des Beschuldigten und seine Schwester, die beide an der Weihnachtsfeier anwesend waren.

Der Ex-Schwiegersohn soll durch die Stieftochter des Polizeioffiziers, mit der er 2015 verheiratet war und mittlerweile geschieden ist, über die durchgeschnittenen Kehlen informiert worden sein. Diese wiederum hat laut dem Ex-Schwiegersohn das Wissen von ihrer Mutter, der Ehefrau des beschuldigten Polizeioffiziers.

Bereits Prozess gegen Ex-Schwiegersohn

«Der Beschuldigte nahm die Arbeit oft nach Hause. Kann es sein, dass seine Frau etwas mitbekommen hat, weil sie ein Telefongespräch mitgehört hat?», fragte Gerichtspräsident Bolleter den Ex-Schwiegersohn.

Er verneinte. Das seien Ausflüchte und Schutzbehauptungen, so der Schwiegersohn. «Die Frau des Beschuldigten wusste auch von anderen Taten Details, die der Polizeioffizier ausgeplaudert hat», behauptete der Ex-Schwiegersohn. «Es macht mich sauer, dass seit fünf Jahren gelogen wird. Er soll doch einfach das ‹Füdli› haben, sich entschuldigen und den Fehler eingestehen, den er gemacht hat.»

Im stets gepackten Rucksack des Täters wurden Kabelbinder und eine alte Armeepistole gefunden.
Im stets gepackten Rucksack des Täters wurden Kabelbinder und eine alte Armeepistole gefunden.
Keystone/Kantonspolizei Aargau

Bolleter wollte vom Ex-Schwiegersohn wissen, ob er denn mit Sicherheit sagen könne, dass das Täterwissen vom Beschuldigten stammte. Schliesslich sei sein Sohn in der Feuerwehr gewesen und er selbst aktiv in einem Fussballklub, in dem auch der Ex-Mann der getöteten Bewohnerin des Hauses gewesen ist. Der Ex-Schwiegersohn antwortete unklar, bestand jedoch darauf, dass er die Informationen nicht von dort hatte.

Stiefenkel: Zu spät für eine Entschuldigung

Selbes sagte auch der Sohn des Ex-Schweigersohns, der Stiefenkel des Beschuldigten. «Es ist absolut klar, wie das ganze abgelaufen ist», sagte der Stiefenkel vor dem Bezirksgericht Baden aus. Sein Stiefgrossvater habe Täterwissen weitererzählt und gehöre verurteilt – für eine Entschuldigung sei es zu spät.

Das alles sei ein «Kindergarten», so der Stiefenkel. Sein Stiefgrossvater hätte längst zugeben können, was passiert ist. «Ich hoffe, es kommt jetzt endlich die Wahrheit ans Licht, dass das Ganze ein Ende hat und wir damit abschliessen können.»

Der Stiefenkel belastete seinen Stiefgrossvater nicht nur in Bezug auf die Verletzung des Amtsgeheimnisses, sondern auch als es um den Anklagepunkt der mehrfachen versuchten Anstiftung zum falschen Zeugnis ging.

146 Tage suchten die Behörden nach dem Täter. Dieser wohnte nur wenige Hundert Meter vom Tatort entfernt.
146 Tage suchten die Behörden nach dem Täter. Dieser wohnte nur wenige Hundert Meter vom Tatort entfernt.
Keystone

Der Polizeioffizier soll laut der Staatsanwaltschaft gegenüber seinem Stiefenkel Wissen über die Tiefe der Kehlenschnitte der Opfer und über einen halben Fingerabdruck am Tatort herumerzählt haben.

Der Stiefenkel des Polizeioffiziers sagte aus, dass sein Stiefgrossvater gesagt habe, er soll bei einer möglichen Zeugeneinvernahme vage bleiben oder sagen, dass er nichts mehr wisse, da es zu lange her sei. Dies, damit er nicht selbst in die Sache hereingezogen werde. «Heute weiss ich wirklich, warum er das gemacht hat: Um seine eigene Haut zu retten», so der Stiefenkel.

Stieftochter belastet beschuldigten Stiefvater nicht

Vor Gericht als Zeugin wurde auch die Mutter des Stiefenkels und damit die Stieftochter des Polizeioffiziers und Ex-Frau des Ex-Schweigersohns einvernommen. Immer wieder machte diese von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch.

Als Gerichtspräsident Bolleter etwa fragte, ob ihre Mutter, also die Ehefrau des Beschuldigten, Täterwissen mitbekommen habe, weil ihr Stiefvater zu Hause arbeitete und telefonierte, verneinte die Stieftochter die Aussage mit leiser, aber bestimmter Stimme.

Auch als es darum ging, ob sie wisse, woher ihr Ex-Mann das Wissen um die durchgeschnittenen Kehlen hatte, sagte die Stieftochter des Beschuldigten nicht aus. Sie behauptete zudem in einem früheren Stadium des Verfahrens, dass sie nie über Täterwissen mit ihrem Ex-Mann, dem Ex-Schweigersohn des Beschuldigten, gesprochen hat.

Diese Aussage löste ein Strafverfahren gegen den Ex-Schwiegersohn aus. Grund: Er soll falsches Zeugnis abgegeben haben, in dem er behauptete, er soll durch seine Ex-Frau oder ihre Mutter an die Information der Kehlenschnitte gekommen sein. Der Ex-Schwiegersohn wurde schlussendlich vom Bezirksgericht Lenzburg freigesprochen.

Beschuldigter: «Es war keine einfache Zeit»

Auf einen solchen hoffte auch der beschuldigte Polizeioffizier. Er beteuerte vor Gericht, nicht bewusst Täterwissen herumerzählt zu haben. «Ich bin seit 48 Jahren bei der Kantonspolizei Aargau. Ich weiss, was sich gehört und was nicht.»

Er sei am 21. Dezember 2015 gegen Mittag nach Rupperswil aufgeboten worden. «Bis am 24. Dezember habe ich durchgehend gearbeitet», so der beschuldigte Polizeioffizier, der eine Kaderposition innehat. «Ich war praktisch nie zu Hause und wenn, dann nur, um kurz zu duschen.»

Der Täter schaffte sich mit einer List Zugang ins Haus der Opfer. Er gab sich mit einer gefälschten Visitenkarte als Schulpsychologe der Schule des jüngeren Sohnes aus.
Der Täter schaffte sich mit einer List Zugang ins Haus der Opfer. Er gab sich mit einer gefälschten Visitenkarte als Schulpsychologe der Schule des jüngeren Sohnes aus.
Keystone

Er sei am 24. Dezember nach seiner Arbeit an eine Familienweihnachtsfeier gegangen. «Ich bekam währenddessen viele Telefonate», sagte der Beschuldigte vor Gericht. Er sei jeweils in den Gang gegangen, damit niemand zuhören konnte. «Das war zumindest die Absicht.» 

Auch zu Hause habe er nicht vor seiner Ehefrau über die Details des Falls gesprochen. «Ich kann aber nicht ausschliessen, dass sie trotzdem etwas mitbekommen hat», sagte der Beschuldigte. «Aber ich habe garantiert niemandem bewusst etwas gesagt.»

Abgeschnittene Fingerkuppe am Tatort

Er habe zu Hause aber zweifelsohne über die Tat gesprochen, schliesslich habe er eine solche Brutalität in seiner gesamten Karriere selten erlebt. Täterwissen sei dabei aber nie Gegenstand der Konversation gewesen. «Ich habe nur gesagt, dass sie auf eine barbarische Art umgebracht wurden», so der Beschuldigte.

Vor Gericht bestritt der beschuldigte Polizeioffizier zudem, seinen Stiefenkel zu einem falschen Zeugnis angestiftet zu haben. Allein schon, dass er ihm von einem «abgeschnittenen Fingerabdruck» erzählt haben soll, könne nicht stimmen. «So eine Terminologie benutze ich nicht», sagte der Polizist.

Ausserdem sei im Fall Rupperswil kein Fingerabdruck, also auch kein halber Fingerabdruck gefunden worden. «Es wurde eine abgeschnittene Fingerkuppe eines der Opfer am Tatort gefunden», sagte der Beschuldigte vor Gericht und enthüllte somit ein noch nicht veröffentlichtes Detail zum Vierfachmord in Rupperswil.

Zudem sei es nicht in seinem Sinn gewesen, so der Beschuldigte während eines laufenden Verfahrens einen Zeugen zu beeinflussen.

Verteidiger: Ex-Schwiegersohn führt Rachefeldzug

Der Verteidiger des beschuldigten Polizeioffiziers doppelte in seinem Plädoyer nach. Er stellte die Glaubwürdigkeit des Ex-Schwiegersohns infrage. Dieser habe sich mit seinem Wissen um die Kehlendurchschnitte «brüsten» wollen.

Die gesamte Anklage würde auf den Aussagen des Ex-Schwiegersohns beruhen, der auch schon vom Bezirksgericht Lenzburg nicht als vollumfänglich glaubwürdig abgetan worden sei.

Vielmehr würde der Ex-Schwiegersohn einen «persönlichen Rachefeldzug» gegen den beschuldigten Polizisten führen, weil er ihn für das Scheitern seiner Ehe verantwortlich mache. Hierfür spanne er sogar seinen Sohn mit ein, der sich bei seinen Aussagen ebenfalls in Widersprüche verstricke.

Der Verteidiger forderte einen Freispruch «in dubio pro reo», im Zweifel für den Angeklagte. Die Staatsanwaltschaft hingegen beantragte eine bedingte Geldstrafe von 270 Tagessätzen und eine Busse von 5'000 Franken. 

Gericht spricht Beschuldigten «in dubio pro reo» frei

Das Bezirksgericht Baden folgte dem Antrag der Verteidigung und sprach den beschuldigten Polizeioffizier frei. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Gerichtspräsident Bolleter sagte, dass nicht bestritten wird, dass geheimes Wissen im Umlauf gebracht wurde. Es sei aber nicht zweifelsfrei festzustellen, dass der Beschudligte das Täterwissen tatsächlich ausgeplaudert hat.

Es liege zwar nahe, dass der Ursprung beim Polizeioffizier liegt. «Viel spricht für diese Version», so Bolleter. Aber ebenso viel spreche für die Version des Beschuldigten.

«Wir waren nicht dabei», so Bolleter. Das Gericht könne sich nur auf Akte stützen. «Aus deren Studium geht für das Gericht ganz klar heraus: Es gibt mehrere Versionen, die in sich stimmig und aussagekräftig sind.»

Im Zweifel entscheide das Gericht zugunsten eines Beschuldigten und folgte somit dem Leitsatz «in dubio pro reo».

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