Dargebotene Hand«Im Grossen und Ganzen geht es den Menschen nicht so gut»
Von Valérie Passello
29.5.2021
Unter der Nummer 143 findet man immer jemanden, der einem zuhört und Mitgefühl entgegenbringt. Zwei Freiwillige erzählen von ihren Erfahrungen und sagen, was sich in der Corona-Pandemie geändert hat.
Von Valérie Passello
29.05.2021, 14:00
29.05.2021, 14:14
Valérie Passello
Die Corona-Pandemie schlägt vielen Menschen aufs Gemüt. Sie fühlen sich niedergeschlagen, leiden unter Einsamkeit oder befinden sich in Schwierigkeiten, unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem sozialen Status. Die Dargebotene Hand bietet unter der Telefonnummer 143 rund um die Uhr die Möglichkeit, anonym mit jemandem zu sprechen.
Hinter der Organisation stehen schweizweit rund 670 Freiwillige, die von einem professionellen Team geschult und betreut werden. Sie hören jenen zu, die jemanden brauchen, der ihnen zuhört, sie nicht verurteilt und ihnen Mitgefühl entgegenbringt. Jacques* und Martine* sind zwei von ihnen. Er arbeitet seit zwölf Jahren für die Dargebotene Hand, sie seit acht.
Wie sind Sie darauf gekommen, ehrenamtlich bei der Dargebotenen Hand zu arbeiten?
Martine: Ich fühle mich vom Leben privilegiert und dachte, dass nun die Gelegenheit sei, etwas zurückzugeben. Aber in Tat und Wahrheit gibt man da nicht nur, man erhält auch viel!
Jacques: Als es auf die Pensionierung zuging, wollte ich noch einen Fuss im aktiven Leben behalten. Ich komme aus dem Medizin-Sektor. Hier will ich etwas tun, das mir wie in meiner früheren Tätigkeit ermöglicht, greifbare Ergebnisse zu erzielen.
Hatten Sie Vorstellungen von ihrer Tätigkeit, die sich im Nachhinein als falsch herausstellten?
Jacques: Ich persönlich dachte, dass ich ständig mit dramatischen oder schwierigen Situationen konfrontiert werden würde. Das ist aber nur ein kleiner Teil der Arbeit. Manchmal brauchen die Menschen einfach nur jemanden zum Reden, weil sie sich einsam, ängstlich oder hilflos fühlen in einer Alltagssituation.
Was hat sich mit dem Beginn der Corona-Pandemie an den Gesprächen geändert?
Martine: Ich würde sagen, dass es zwei Momente gab. Der erste Lockdown wurde paradoxerweise ziemlich gut aufgenommen. Den meisten Verletzlichen erging es dabei gut, weil die Anweisungen klar waren. Einige hat die Enge sogar eher beruhigt. Wir hatten ein paar mehr Anrufe, aber nicht so viele.
«Es wenden sich Leute an uns, die sich vorher nie an die Dargebotene Hand gewendet hätten»
Bei der zweiten Welle war das anders, man spürte Gefühle der Verunsicherung und der Angst. Jetzt ist ein Gefühl der Frustration vorhanden. Wir erhalten inzwischen auch einige Anrufe von Verschwörungstheoretikern. Und da die Lage in einigen Wirtschaftssektoren katastrophal ist, wenden sich Leute an uns, die sich vorher nie an die Dargebotene Hand gewendet hätten.
Jaques: Meine Wahrnehmung ist nicht ganz gleich. Schon seit Beginn der Pandemie haben viele Anrufer direkt mit mir über das Coronavirus und ihre Ängste gesprochen. Bereits ab Beginn des ersten Lockdowns bemerkte ich bei einigen Menschen eine erschreckende Isolation und viel Leid. Im Grossen und Ganzen geht es den Menschen nicht so gut, auch heute nicht.
Und auf Ihre ehrenamtliche Tätigkeit hat die Pandemie auch Auswirkungen gehabt?
Martine: Auf das Leben des Teams, ja. Man muss wissen, dass wir uns etwa alle zwei Wochen zur Supervision treffen. Nach der ersten Schulung, die Dutzende von Stunden dauert, folgen auch Weiterbildungsmodule. Darüber hinaus treffen wir uns regelmässig zu Ritualen, die den Zusammenhalt im Team aufrechterhalten sollen, wie beispielsweise zur Weihnachtsfeier oder zur Begrüssung neuer Kollegen.
Während Covid war es wichtig, ein Infektionscluster unter den Freiwilligen zu vermeiden. Die Verantwortlichen mussten eine echte logistische Herausforderung meistern und digitale Tools entwickelten, die Online-Meetings ermöglichten. Die Geselligkeit der Veranstaltungen hat darunter gelitten.
Jacques: Als einer, der Zusammenkünfte liebt, fand ich, dass die Qualität der Treffen auf Zoom etwas geringer war, aber ich erkenne an, dass ein beträchtlicher Aufwand betrieben wurde für die Anpassung. Und einige von uns haben die Initiative ergriffen, um sicherzustellen, dass wir trotzdem noch die Gelegenheiten zu Treffen haben.
Sie verbringen zwanzig Stunden im Monat damit, anderen zuzuhören. Wie erholen sie sich selber?
Jacques: Wir lernen in der Grundausbildung viele guten Techniken, wie zum Beispiel Wohlwollen und Nicht-Urteilen. Aber wenn uns eine schwierige Situation mitnimmt, können wir immer mit anderen Telefonberatern darüber sprechen, ebenso wie mit den Mitarbeitenden, die dafür da sind. Und manchmal überrascht einen auch die Art und Weise, wie Kollegen vorgehen, was uns dazu bringt, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
«Man muss auch wissen, wie man auf sich selbst hört»
Und man muss auch wissen, wie man auf sich selbst hört. Ich war mal an einem Punkt, an dem ich eine gewisse Ermüdung gespürt habe. Also bat ich um eine Auszeit. Diese Episode war für mich dann positiver, weil ich merkte, dass mir meine Arbeit gefällt und ich weitermachen will.
Martine: Zeit, Erfahrung und Supervision ermöglichen uns ein Vorankommen auf persönlicher Ebene – denn man arbeitet gleichzeitig auch an sich selbst. Oftmals, wenn mich eine Situation berührt, versuche ich herauszufinden, warum die bei mir diese Resonanz auslöst. Und ich lass das beiseite, damit meine Emotionen nicht das Gespräch beeinflussen. Über unsere Arbeit sprechen wir nicht mit unseren Lieben oder Freunden ausserhalb der Organisation. Aber manchmal, wenn ich in meinem Alltag nicht gut reagiere, frage ich mich: «Was hättest du bei der Dargebotenen Hand gemacht»?
Was war Ihr einprägsamstes Erlebnis?
Martine: Es gibt mehrere. Einige Male wurde ich wütend, als ich merkte, dass mich Männer verarschen und am anderen Ende der Leitung masturbierten. Ich hatte das Gefühl, benutzt zu werden. Ich bin auch sehr sensibilisiert auf misshandelte Frauen, weil vielen von ihnen die Kraft fehlt, sich aus der Situation zu lösen. Also versuche ich, im Gespräch etwas anzustossen, das vielleicht drei Monate später einen Effekt haben könnte.
Und zum Glück gibt es auch positive Aspekte. Wenn jemand von einer Situation berichtet, die völlig ausweglos zu sein scheint, sich aber im Laufe ein möglicher Ausweg zeigt für die Person. Manchmal können ein paar Fragen dazu führen, dass es Klick macht. Und manchmal lachen wir am Ende des Gesprächs sogar mit dem Anrufer über die Situation.
Ein Sensibilisierungsvideo der Dargebotenen Hand.
Youtube/Tel 143 Die Dargebotene Hand
James: Auch wenn es nicht oft vorkommt, würde ich sagen, dass es die Momente sind, an denen es um Selbstmord geht. Wenn ein Anrufer zögert. Ich habe eine Stunde lang mit jemandem telefoniert. Da merkt man, dass sich das Leben in kurzer Zeit abspielt, und dann ist da immer diese Spannung, angemessen zu bleiben. Am Ende bin ich zusammengebrochen und habe geweint.
Was sind die Eigenschaften, die aus jemandem einen guten ehrenamtlichen Helfer macht?
Jacques: Man muss die Fähigkeit haben, Menschen zu lieben, sonst ergibt die Arbeit keinen Sinn. Sie müssen mit sich selbst im Reinen sein. Und es braucht genug Vertrauen in die Gruppe, um eigene Schwächen anzusprechen.
Martine: Man muss sich ohne Vorurteile auf eine Beziehung einlassen und darf keine Angst haben, seine eigenen Grenzen zu setzen.