Polit-Experte Erich Gysling «In den letzten zwei Jahren war die Schweiz überneutral»

Von Alex Rudolf

9.6.2022

Uno-Sicherheitsrat – Cassis: «Ein wichtiges Kapitel der Schweizer Diplomatie»

Uno-Sicherheitsrat – Cassis: «Ein wichtiges Kapitel der Schweizer Diplomatie»

Laut Bundespräsident Ignazio Cassis steht die Schweiz am Donnerstag vor einem wichtigen Kapitel ihrer Geschichte: Das Land wird aller Voraussicht nach zum ersten Mal für zwei Jahre im Uno-Sicherheitsrat Einsitz nehmen. «Der Sitz bringt der Schweiz Glaubwürdigkeit, weil sie zeigen kann, was sie für Frieden und Stabilität leistet,» sagte der Bundespräsident am Mittwochabend (Ortszeit) vor Medienvertretern in New York.

09.06.2022

Heute ist die Schweiz in den UNO-Sicherheitsrat gewählt worden. Polit-Kenner Erich Gysling sagt, dass sie sich fortan nicht mehr verstecken kann.

Von Alex Rudolf

Herr Gysling, heute wählte die UNO-Vollversammlung die Schweiz in den Sicherheitsrat. Was bedeutet das konkret für unser Land?

Die Schweiz wird sichtbarer. Dies ist in etwa die Kürzestzusammenfassung dieser Wahl. Künftig wird die Schweizer Vertretung Stellung beziehen müssen in diesem Gremium, denn sich öfter der Stimme zu enthalten, wird nicht goutiert.

Wird dies zum Problem?

In den vergangenen zwei Jahren war die Schweiz in Sachen Aussenpolitik sehr zurückhaltend – wenn nicht sogar überneutral. Davon wird sie abkommen müssen.

Wie erklären Sie sich diese Überneutralität? 

Dies hängt mit der Strategie des Bundesrates zusammen. Ich habe zunehmend den Eindruck, der Bundesrat hört auf sämtliche Minderheiten, die ihm wichtig erscheinen. In sehr vielen Fällen ist er dadurch gelähmt – innen- wie auch aussenpolitisch. Der Bundesrat wurde zum Spielball der Interessensvertreter.

Zur Person
Portrait of Erich Gysling, publicist, correspondent and Middle-East expert, pictured on June, 28, 2011, in Affoltern am Albis, canton of Zurich, Switzerland. (KEYSTONE/Gaetan Bally)
KEYSTONE

Erich Gysling ist Publizist und Autor. Der gebürtige Zürcher arbeitete in den 1960er-Jahren für die Tagesschau von SRF, bevor zehn Jahre in der Ausland-Redaktion der «Weltwoche» tätig war. Nach seiner Rückkehr zum Schweizer Fernsehen übernahm er 1985 die neu geschaffene Stelle des Chefredaktors. 1990 übernahm er die Leitung der Rundschau. Gysling spricht zwölf Sprachen, darunter Arabisch, Farsi und Kisuaheli.

Woran denken Sie konkret?

Beispielsweise an die Verhandlungen zum Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU, die der Bundesrat im vergangenen Jahr abgebrochen hat. Dies geschah, weil der Bundesrat auf alle Interessensvertretungen, die ihre Kritik lauthals vorgebracht haben, gehört hat. Doch eine Regierung muss Prioritäten setzen – und das macht der Bundesrat nicht. Er wurde handlungsunfähig. So viel Handlungsunfähigkeit kann sich die Schweiz im Sicherheitsrat nicht leisten.

Die Schweiz wird sichtbarer und muss Farbe bekennen. Wo macht sie sich möglicherweise unbeliebt?

Sicher beim Thema Sanktionen. Hier kann es sein, dass die Schweiz schneller reagieren muss, als sie es bisher getan hat. So viel Zeit wie beim Nachvollzug der EU-Sanktionen gegen Russland in diesem Jahr kann sie sich fortan nicht mehr nehmen. Bei der einen oder anderen Resolution wird die Versuchung gross sein, sich der Stimme zu enthalten. Ich hoffe, das passiert nicht.

Und in welchen Dossiers wird die Schweiz glänzen?

Problemlos werden sicher alle Geschäfte, die mit Klimaschutz zu tun haben, über die Bühne gehen. Auch wenn es um die generelle Friedenspolitik geht, kann die Schweiz auftrumpfen.

Was bedeutet die Wahl für die Schweizer Neutralität? Wird nun zwei Jahre über nichts anderes mehr gesprochen?

Mit der Neutralität ist der Einsitz im Sicherheitsrat absolut vereinbar. Auch andere neutrale Staaten wie Schweden, Finnland, Irland waren bereits Mitglied. Was den innenpolitischen Dialog angeht: Im Zusammenhang mit der Neutralität gab es immer wieder neue Schlagworte. Früher die «aktive» Neutralität, heute die «kooperative» oder «solidarische». All diese Ausdrücke bedeuten nicht wahnsinnig viel. Im Kern geht es darum, dass die Schweiz das Neutraliätsrecht, das etwa Waffenexporte in Kriegsländer verbietet, anwendet. Die Neutralitätspolitik hingegen lässt sehr viel Spielraum. Letztlich ist die Neutralität Mittel zum Zweck. Sie soll uns die Unabhängigkeit ermöglichen und uns aus Konflikten raushalten.

Micheline Calmy-Rey sagte diese Woche in einem Interview mit blue News, dass die UNO schwach sei, da die Grossen bestimmen. Sehen Sie dies auch so?

Nur bei jenen Konflikten, bei denen die Grossmächte involviert sind, wie aktuell beim Krieg in der Ukraine. Amerika konnte Resolutionen verhindern im Jahr 2003 gegen den Krieg im Irak und nun verhindert Russland solche gegen jenen in der Ukraine. Der Sicherheitsrat ist paralysiert.

Ist das Veto-Recht noch zeitgemäss und sinnvoll?

Sinnvoll war es sicher noch nie und ob es zeitgemäss ist, ist eine Frage des Blickwinkels. Die Veto-Mächte sind die Sieger des Zweiten Weltkriegs, also die USA, Russland, China, Grossbritannien und Frankreich. Das Gremium ist heute nicht reformierbar, da es für solche die Zustimmung aller bräuchte.