Von der Leyen schweigtDarum ist Brüssel die Milliarde aus Bern nur eine Randnotiz wert
Von Andreas Fischer
2.10.2021
Für die EU ist es eine logische Gegenleistung, damit die Schweiz überhaupt wieder mitmachen darf: Ein grosses Thema ist die Freigabe der zweiten Kohäsionsmilliarde in Brüssel aber nicht.
Von Andreas Fischer
02.10.2021, 10:22
02.10.2021, 13:19
Von Andreas Fischer
Die Schweiz will den seit zwei Jahren ausstehenden Kohäsionsbeitrag in Höhe von 1,3 Milliarden Franken an die EU auszahlen. Die beiden Räte haben am Donnerstag nach kontroversen Debatten entschieden, die Rahmenkredite ohne neue Bedingungen freizugeben.
Das Thema EU gibt in Bern immer zu reden, für die EU ist es nur eines von vielen. «Ja, das ist sicher der Fall», sagt Christa Tobler, Professorin für Europarecht an den Universitäten Basel und Leiden, auf Nachfrage von «blue News». «Für die EU ist die Schweiz eine wichtige Handelspartnerin, aber nicht die allerwichtigste (wie es umgekehrt die EU für die Schweiz ist). Die Schweiz ist aber ein Nachbarland und damit auf jeden Fall relevant und wichtig, besonders für die direkt angrenzenden Gebiete, von wo auch täglich viele Grenzgänger täglich in die Schweiz kommen.»
Dennoch: Die Freigabe der Gelder durch die Schweiz wurde in der EU zur Kenntnis genommen. Mehr nicht. Ursula von der Leyen äusserte sich nicht. Der Kommissionspräsidentin sind andere Themen wichtiger. Ihr Sprecher Eric Mamer wies nach dem Entscheid des Nationalrates am Donnerstag lediglich darauf hin, dass die Zahlungen der Schweiz für Brüssel eine Selbstverständlichkeit seien, wie die «Neue Zürcher Zeitung» schreibt.
Die EU-Kommission begrüsste zwar den Entscheid des Parlaments, den zweiten Kohäsionsbeitrag bedingungslos freizugeben, blieb dabei im Ton aber kühl. Maros Sefcovic, der für die Schweiz zuständige EU-Kommissar, verwies in einem Tweet darauf, dass das Geld schon längst hätte gezahlt werden müssen.
Die Schweiz ist aus Sicht der EU in Verzug
Könnte man salopp sagen, die EU reagiere mit einem «Na und?» darauf, dass die Schweiz nach langer Blockade die Kohäsionsmilliarde freigibt? – Christa Tobler verneint dies.
«Die EU sagt nicht einfach ‹Na und?›, sondern zeigt sich erfreut. Allerdings ist dieser Beitrag in den Augen der EU schon seit Jahren überfällig, nämlich seit dem Auslaufen der Abmachungen über die erste Tranche», ordnet Tobler ein. Aus Sicht der EU sei die Schweiz im Verzug. «Weiter wiederholt die Kommission das, was sie schon länger sagt, nämlich, dass man einen solchen Beitrag dauerhaft verankern sollte, gleich wie im Recht des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR).»
Das EWR-Abkommen nenne den Grundsatz, «dass Zahlungen erfolgen sollen, und Protokolle setzen dann die konkrete Eckwerte für jeweils eine bestimmte Anzahl Jahre», erklärt Tobler. «Darauf schliesst zum Beispiel Norwegen mit den EU-Mitgliedstaaten Abkommen über die Unterstützung von dortigen Projekten. Das Geld geht nicht an die EU, auch nicht bei den Schweizer Kohäsionszahlungen. Die Schweiz trifft mit der EU eine Grundsatzvereinbarung und schliesst danach mit einzelnen Mitgliedstaaten Abkommen. Das Geld zahlt sie direkt dorthin.»
Welcome the Swiss Parliament's decision in favour of the unconditional disbursement of 🇨🇭2nd Cohesion contribution. The last payment dates back to 2012, a whole #MFF cycle ago - although such a contribution is the logical counterpart of participating in the EU Single Market. 1/3
Sefcovic erinnerte daran, dass die letzte Tranche des ersten Kohäsionsbeitrags 2012, also vor neun Jahren, ausbezahlt worden sei. Für die Zukunft brauche es einen Mechanismus, der sicherstelle, dass die Schweiz einen finanziellen Beitrag leiste, der den Standards der EU entspreche.
Es brauche nun noch die Unterzeichnung eines «Memorandum of Understanding» zwischen der EU und der Schweiz, damit die 1,3 Milliarden Franken ausbezahlt werden können. Das Geld ist für die Förderung von Strukturmassnahmen in den ärmeren EU-Ländern vorgesehen.
Wer kein Ticket löst, kommt nicht rein
Für Brüssel ist der Beitrag eine «natürliche, logische Gegenleistung für die Schweizer Teilnahme am wichtigsten Binnenmarkt der Welt», so Kommissionssprecher Eric Mamer. Die Kohäsionsmilliarde wird gewissermassen als eine Art Eintrittsgeld betrachtet, um von den Programmen der EU und dem Binnenmarkt zu profitieren: Wer kein Ticket löst, kommt nicht rein.
Das macht sich vor allem beim EU-Forschungsprogramm «Horizon Europe» bemerkbar, von dem die Schweiz praktisch ausgeschlossen ist. Für den Wissenschaftsstandort könnte das verheerend sein.
Eine Garantie, dass die Schweiz nach der Freigabe der Koahäsionsmilliarde wieder mitforschen darf, gibt es von Seiten der EU nicht. Dessen ist sich auch Aussenminister Ignazio Cassis bewusst: «Eine Freigabe ist keine Garantie dafür, dass die Schweiz künftig bei Horizon Europe oder Erasmus plus mitmachen kann.» Für den Bundesrat sei es aber wichtig, ein Zeichen zu setzen.
«Automatisch geschieht nichts»
Christa Tobler teilt diese Sicht: «Die Zahlung ist auf jeden Fall eine positive Geste seitens der Schweiz in Richtung EU und diejenigen Länder, welche vom Kohäsionsbeitrag profitieren sollen. Die Schweiz erwartet nun, dass die EU zu verschiedenen Themen wieder mit sich reden lässt, kurzfristig vor allem über Forschungszusammenarbeit.»
Dass die Gespräche über die Beziehungen zwischen Bern und Brüssel nach der zuletzt deutlichen Abkühlung nun wieder aufgenommen werden können, schätzt auch der Brüsseler SRF-Korrespondent Charles Liebherr ein. Es gebe berechtigte Hoffnung, dass Verhandlungen über eine Beteiligung der Schweiz an «Horizon Europe» beginnen: «Die EU betonte ja immer, dass die Gespräche nicht beginnen können, bevor die Schweiz nicht alle alten finanziellen Verpflichtungen einlöst.»
«Automatisch», weiss Europarechtlerin Christa Tobler allerdings, «geschieht – wie immer – gar nichts. Die Parteien müssen vielmehr miteinander reden und verhandeln.»
Der Nationalrat debattiert kontrovers über die Kohäsionsmilliarde
«Wichtiger Beitrag für ein gerechteres Europa», «Erpressung», «notwendigee Schritt zur Normalisierung»: Der Nationalrat führte am Donnerstag eine emotionale Debatte um die Freigabe der Kohäsionsmilliarde.