Urteil Europäischer Gerichtshof Schweiz diskriminiert Männer bei der Witwerrente

sda/amo

11.10.2022

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg hat entschieden, dass die Schweiz gegen das Diskriminierungsverbot verstösst.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg hat entschieden, dass die Schweiz gegen das Diskriminierungsverbot verstösst.
Keystone (Archivbild)

Der Bund hat vor dem obersten Gerichtshof eine Schlappe kassiert: Die Schweiz verstösst mit ihrer Gesetzgebung im Zusammenhang mit der Witwerrente gegen das Diskriminierungsverbot. Die AHV muss ihre Witwerrenten anpassen.

sda/amo

11.10.2022

Ein Witwer, der beim Gerichtshof für Menschenrechte geklagt hat, hat gegen den Bund gewonnen. Die AHV muss ihre Witwerrenten anpassen. Die Schweiz verstösst mit ihrer Gesetzgebung im Zusammenhang mit der Wittwerrente gegen das Diskriminierungsverbot. Dies hat die grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg entschieden.

Konkret ging es um einen Witwer aus dem Kanton Appenzell-Ausserrhoden, der nach Erreichen der Volljährigkeit der jüngeren Tochter keine Rente mehr erhielt. Dieser hat sich seit mehr als zehn Jahren durch sämtliche Instanzen gekämpft, schreibt der «Tagesanzeiger».

Als Frau hätte der Mann die Witwerrente weiterhin erhalten. Die Schweiz würde damit Männer diskriminieren, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden.

Bund zieht den Kürzeren

Vor zwei Jahren hat Strassburg bereits in erster Instanz zugunsten des Mannes entschieden. Der Fall wurde auf Antrag der Schweiz von der Grossen Kammer und damit der zweiten Instanz des EGMR im Juni 2021 verhandelt. Diese bestätigt in ihrem am Dienstag veröffentlichten Urteil den Entscheid der kleinen Kammer.

Die grosse Kammer hält in ihrem am Dienstag veröffentlichten Urteil fest, dass der Witwer sich zur Sicherung seiner Existenzgrundlage in der gleichen Situation befand, wie viele Witwen nach dem Erreichen der Volljährigkeit des jüngsten Kindes. Dennoch sei er anders behandelt worden, womit in Verbindung mit dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eine Diskriminierung vorliege.

Unterdessen hat sich das Schweizer Parlament daran gemacht, die bisherige Gesetzgebung zu ändern. So soll die heutige Ungleichbehandlung von Witwen und Witwern beseitigt werden.

Veraltetes System: Vater arbeitet – Mutter ist Hausfrau

In der Schweiz erhalten Männer nur bei minderjährigen Kindern eine Witwerrente. Frauen hingegen erhalten diese auch, wenn die Kinder bereits volljährig sind. Unter der Bedingung, dass die Frau beim Tod des Partners mindestens 45 Jahre alt ist, erhält sogar eine kinderlose Witwe eine Hinterlassenenrente.

Diese Regel ist ein Relikt der Vergangenheit. Das Gesetz geht hier noch immer von der Annahme aus, dass die Frau den Mann für ihren Lebensunterhalt braucht, da er für sie sorgt. War die Frau über Jahre für die Versorgung der Kinder zuständig, wurde ihr nicht zugemutet, wieder Tritt in der Erwerbswelt finden zu müssen.

Mit dem Entscheid des EGMR muss die Schweiz nun handeln. Von nun an sollen Witwer gleichgestellt werden. Sie müssen auch bei erwachsenen Kindern nach wie vor entschädigt werden.

Witwer erhalten in der Schweiz nur Witwerrenten, wenn das Kind noch nicht volljährig ist.
Witwer erhalten in der Schweiz nur Witwerrenten, wenn das Kind noch nicht volljährig ist.
Getty Images (Symbolbild)

Übergangslösung kostet Millionen Franken

Nicht nur der Kläger, auch andere Witwer in der Schweiz profitieren vom EGMR-Urteil. Allerdings nur jene, die sich ebenfalls gewehrt haben. Väter, die die Streichung der Witwerrente akzeptiert haben, gehen leer aus.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) geht davon aus, dass die AHV jährlich zwölf Millionen Franken für die Übergangslösung ausgeben muss, bis das Gesetz grundlegend geändert wird.

Frau kam bei Sturz zu Tode

Die Frau des Mannes, der vor dem Gerichtshof geklagt hat, stürzte im Jahr 1994 bei einer Wanderung in den Tod. Der Mann kündigte daraufhin seinen Job, um für seine beiden Töchter zu sorgen. Diese seien zu dem Zeitpunkt zwei und vier Jahre alt gewesen, schreibt der «Tagesanzeiger».

Er lebte von der Witwerrente, von den Halbwaisenrenten der Töchter und von Ergänzungsleistungen. Als die jüngere Tochter mit 18 Jahren volljährig wurde, verlor der Mann seinen Rentenanspruch.