ETH-Experte erklärt den Klimabericht «Unklarheiten und Abwarten können wir uns nicht leisten»

Von Andreas Fischer

9.8.2021

Der Wasserspiegel des Vierwaldstättersees stieg in Luzern zwar  bedrohlich: Die Hochwasserlage im Juli verlief für die Schweiz aber insgesamt recht glimpflich.
Der Wasserspiegel des Vierwaldstättersees stieg in Luzern zwar  bedrohlich: Die Hochwasserlage im Juli verlief für die Schweiz aber insgesamt recht glimpflich.
Bild: KEYSTONE

Der neue Klimabericht beschreibt kein düsteres Zukunftsszenario, sondern die traurige Wirklichkeit. Der ETH-Klimatologe und Mitautor Erich Fischer erklärt, wie die Schweiz vom Klimawandel betroffen ist.

Von Andreas Fischer

9.8.2021

Ist das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens überhaupt noch erreichbar? Der am Montag vorgelegte Bericht des Weltklimarats IPCC nährt Zweifel daran. Die Autoren gehen davon aus, dass die bedeutsame Marke einer Erderwärmung um 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter bereits um das Jahr 2030 erreicht wird. Und damit zehn Jahre früher als noch 2018 prognostiziert.

Ob eine weitere Erwärmung danach noch zu verhindern ist, ist in der Wissenschaft umstritten. Der Klimatologe Erich Fischer von der ETH Zürich weiss, das es schwierig wird. Fischer ist einer von fünf Schweizer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die an dem Bericht mitgearbeitet haben. Im Interview mit «blue News» erklärt er, welche Folgen der Schweiz durch den Klimawandel bevorstehen und wie eine weitere Erderwärmung noch zu verhindern ist.

Zur Person
Professors Portraits of the Department of Environmental Systems Science USYS Evaluation, Mach 2018. (ETH/Alessandro Della Bella)
zVg/ETHZ/Allessandro della Bella

Erich Fischer forscht und lehrt am Institut für Atmosphäre und Klima der ETH Zürich. Der Klimatologe ist einer der Leitautoren des aktuellen Berichts des Uno-Klimarats IPCC.

Der heute vorgestellte Klimabericht schreckt auf: Kann eigentlich noch irgendetwas gut werden?

Ich denke schon. Die Zukunft liegt noch immer in unseren Händen. Wir haben ziemlich viele Möglichkeiten, sie weiter mitzubestimmen. Ja, wir sind seit dem letzten Bericht aus dem Jahr 2013 näher an die 1,5-Grad-Marke gerückt. Aber es kann uns immer noch gelingen, die Erderwärmung auf diesem Wert für den Rest des Jahrhunderts zu stabilisieren.

Allerdings: Zahlen im aktuellen Bericht zeigen auch, dass das Fenster für das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommen bereits geschlossen ist: Geht es jetzt nicht doch nur noch um Schadensbegrenzung?

Es gibt zwei Aspekte. Der Bericht zeigt zum ersten Mal, dass diese Marke sogar im optimistischsten Szenario mit mehr als 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit erreicht wird. Darauf haben wir im Prinzip keinen grossen Einfluss mehr. Was danach geschieht, ob wir auf diesem Level bleiben oder ob die globalen Durchschnittstemperaturen noch weiter steigen, das liegt wie gesagt noch in unseren Händen.

«Wir sind im Juli recht glimpflich davongekommen»

Der zweite Aspekt des Berichts ist: Es sind dringend Anpassungen nötig – und auch möglich. In der Schweiz hat sich zuletzt bei den Hochwasserereignissen gezeigt, dass die hohen Investitionen in den Hochwasserschutz wichtig und richtig waren. Wir sind im Juli recht glimpflich davongekommen. Ich würde auch behaupten, dass die gesundheitlichen Auswirkungen einer Hitzewelle, wie wir sie 2003 hatten, heute nicht mehr so gravierend wären, weil wir besser vorbereitet sind. Aber: Anpassung kostet sehr viel und kommt beim ganzen Ökosystem an die Grenzen.

Sie beschreiben gerade Massnahmen, die auf Symptome zielen. Die Ursachen werden dadurch aber nicht angegangen. Was müssen die Entscheider*innen in Sachen Klimaschutz jetzt unternehmen?

Der Klimabericht schreibt der Politik nicht vor, was zu unternehmen ist. Er zeigt allerdings auf, was nötig ist, um die Erderwärmung möglichst weit unter der 2-Grad-Marke zu halten. Wichtig ist jetzt, die Emissionen von Treibhausgasen insgesamt, insbesondere aber von CO₂, in den Griff zu bekommen. Die Absenkung der Emissionen muss schon in diesem Jahrzehnt beginnen und bis Mitte des Jahrhunderts muss die Netto-Null stehen. Falls die Regierungen es ernst meinen mit der Erfüllung des Pariser Abkommens.



Haben Sie denn das Gefühl, dass es die Politik ernst meint? Bei der Abstimmung des Klimaberichts mit Regierungsvertretern wurde heftig um einzelne Formulierungen gerungen …

Selbstverständlich sind Aussagen zur Machbarkeit des 1,5-Grad-Zieles politisch aufgeladen: Es wurde in der Tat lange an einzelnen Formulierungen gearbeitet. Aber: Niemand wollte die Fakten verdrehen, niemand wollte eine Zahl ändern, niemand wollte Einfluss nehmen, was im Bericht steht und was nicht. Ich denke, die Politik hat die Empfehlungen unseres Berichts sehr wohl zur Kenntnis genommen. Wie ernst sie es mit der Umsetzung meint, wird sich jetzt zeigen müssen. Die Ziele des Pariser Klimaabkommens sind eine Herkulesaufgabe, ganz klar. Um sie zu bewältigen, reicht eine Klein-Klein-Politik, reichen punktuelle Massnahmen nicht mehr aus. Notwendig ist jetzt eine generelle Transformation unseres Energie- und Mobilitätssystems.

Mit welchen Massnahmen kann der CO₂-Ausstoss sehr schnell und sehr deutlich gedrosselt werden?

Konkrete Handlungsvorschläge wird der dritte Teil des Berichts des Weltklimarates, der im nächsten Frühjahr veröffentlicht wird, liefern. Dem kann ich nicht vorgreifen. Wir wissen aber aus früheren wissenschaftlichen Publikationen, dass in der Schweiz zum Beispiel in der Mobilität, die in den letzten Jahren zugenommen hat, ein grosses Potenzial für CO₂-Einsparungen liegt. In der Schweiz wird noch sehr stark mit fossilen Brennstoffen, mit Heizöl, geheizt, und auch in der Abfallwirtschaft steckt noch viel Verbesserungspotenzial. Von Netto-Null, also dem Fall, dass wir nicht mehr CO₂ emittieren, als auf natürlichem Weg gespeichert wird, sind wir noch weit entfernt.

Das ist der Weltklimarat

  • Der Weltklimarat IPCC wurde 1988 gegründet und hat inzwischen knapp 200 Mitgliedsländer. Er soll aufzeigen, wie sich der Klimawandel auf Mensch und Natur auswirkt, wie er gebremst werden kann und welche Anpassungsstrategien es gibt.
  • Das Gremium mit Sitz in Genf forscht nicht selbst. Für die jeweiligen IPCC-Berichte werten Hunderte Experten Tausende Studien aus.
  • Der sechste Klimabericht erscheint in drei Teilen. Der erste Teil zu den naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels wurde am Montag der Öffentlichkeit präsentiert. Die Teile zwei und drei sollen im Februar und März 2022 verabschiedet werden, ehe im Herbst 2022 ein Synthesebericht folgen soll.

CO₂ wird auch von Wäldern oder in Permafrostböden gespeichert. Die ersteren brennen immer häufiger, die letzteren tauen verstärkt auf: Wo soll das CO₂ gespeichert werden?

Zurzeit wird immer noch ein substanzieller Anteil, etwa 60 Prozent, der CO₂-Emissionen von den Landoberflächen, der Vegetation und den Ozeanen aufgenommen. Wenn Wälder abbrennen, wird zwar kurzfristig CO₂ freigesetzt, wenn man der Natur aber Zeit lässt, dass sie nachwachsen, dann nehmen sie wieder CO₂ auf. Das natürliche Gleichgewicht ist eigentlich ein Nullsummenspiel: Der Klimabericht zeigt jetzt aber, dass immer höhere CO₂-Konzentrationen in der Atmosphäre dazu führen, dass der Anteil, der auf natürlichem Wege gespeichert wird, immer kleiner wird. Uns bleibt also gar nichts anderes übrig, als das Problem an der Quelle anzugehen.

Es gibt keine Regionen auf der Welt, die vom Klimawandel verschont bleiben: Wie ist die Schweiz betroffen?

Die Schweiz ist von vielen der Extreme, die im Klimabericht genannt sind, betroffen: Starkregenereignisse und Hitzewellen treten nachweislich häufiger auf. Die Folgen der Erderwärmung sind bei uns überall sichtbar. Unsere Gletscher illustrieren den Klimawandel sehr eindrücklich. Vergleichen Sie einfach mal aktuelle Fotos von einer Gletscherwanderung mit fünf Jahre alten Aufnahmen an der gleichen Stelle.

Welche Auswirkungen sind konkret zu erwarten?

Im Alpenraum haben wir starke Auswirkungen durch das Abtauen von Permafrostböden und zurückgehender Schneebedeckung. In den Städten ist die Hitze die grösste Herausforderung, auch wenn sie weniger dicht bebaut sind als Megacitys. Nichtsdestotrotz werden heisse Tage und warme Nächte zukünftig durch den städtischen Wärmeinsel-Effekt verstärkt. Hinzu kommt die zunehmende Trockenheit, unter der die Landwirtschaft leidet.

«Die Schweiz ist keine Insel»

Wir leben zwar in einem Land, das viel Geld für die Anpassung ausgeben kann, die Hochwasserschutzmassnahmen hatte ich bereits genannt. Aber wenn sich die Extremereignisse weiter häufen, wird das eine sehr teure Geschichte. Es müssen zum Beispiel die Fundamente der Bergbahnstationen neu stabilisiert werden, wenn die Permafrostböden auftauen. Und nicht zuletzt ist die Schweiz keine Insel, sondern durch den starken Aussenhandel mit der Welt verbunden: wodurch die Schweizer Wirtschaft auch von extremen Wetterereignissen, die andernorts auftreten, konkret betroffen ist.



Einige Stimmen, darunter auch die bürgerlichen Parteien, fordern mehr Einsatz von modernen Technologien, um den Klimawandel zu stoppen. Kann das funktionieren?

Technologie kann nur ein Teil der Lösung sein. Um die Emissionen so rasch zu senken, wie es nötig ist, reicht sie alleine nicht aus. Es ist so eine riesige Aufgabe, die uns bevorsteht, dass es eine ganze Palette an Massnahmen braucht. Wie sie allerdings umgesetzt werden, ob durch Verbote oder durch Anreize, ist eine politische, eine gesellschaftliche Frage. Darauf wollen wir als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen keinen Einfluss nehmen.

In der Abstimmung vom 13. Juni wurde das CO₂-Gesetz abgelehnt: Ist das Problem in der Bevölkerung noch nicht angekommen?

Im Gegenteil, meine persönliche Erfahrung ist: Das Bewusstsein ist in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen. In der Frage, wie die notwendigen Massnahmen umgesetzt werden, gibt es gleichwohl unterschiedliche politische Auffassungen. Nun stehen wir ein bisschen vor einem Scherbenhaufen, weil im Moment eigentlich nichts mehr klar ist. Wenn wir den schweizerischen Politprozess kennen, dann dauert es einfach immer zu lange. Unklarheiten und Abwarten können wir uns aber nicht leisten: Die Zeit drängt. Deswegen noch einmal ganz deutlich: Die Treibhausgas-Emissionen müssen rasch und deutlich sinken.

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20.07.2021