Rahmenabkommen Was drinsteht, was die Schweiz will, worauf die EU beharrt

Von Anna Kappeler

12.2.2021

Aussenminister Ignazio Cassis und Staatssekretärin Livia Leu im Dezember in Bern. Sie soll für die Schweiz das Rahmenabkommen fertig verhandeln. 
Aussenminister Ignazio Cassis und Staatssekretärin Livia Leu im Dezember in Bern. Sie soll für die Schweiz das Rahmenabkommen fertig verhandeln. 
Bild: KEYSTONE

Vielfach totgesagt, was steht wirklich im Entwurf zum Rahmenabkommen? Und was kann Staatssekretärin Livia Leu bestenfalls herausholen in Brüssel? Die wichtigsten Streitpunkte im Überblick.

Seit über zwei Jahren liegt ein Vertragsentwurf zum institutionellen Rahmenabkommen (InstA) zwischen der Schweiz und der EU bereit. Jetzt endlich scheint wieder etwas Bewegung in die unendliche Geschichte zu kommen. Die neue Staatssekretärin Livia Leu reiste vergangene Woche für eine zweite Gesprächsrunde nach Brüssel.

Anlass genug zu erläutern, über welche offenen Punkte gestritten wird. Und warum das alles wichtig ist.

Wo liegt das Problem?

Die Schweiz und die EU sind über die bilateralen Verträge sehr eng miteinander verbunden. Dies geschieht durch eine Mischung aus Elementen des Freihandels und der Teilnahme am Binnenmarkt. Seit Jahren allerdings drängt die EU auf ein institutionelles Rahmenabkommen, mit dem die Beziehung neu geregelt werden soll. Neue Abkommen für den Marktzugang will die EU nur noch auf Basis dieses Rahmenvertrages schliessen.



Stimmt es, dass nur noch europäische Richter das Sagen hätten?

Nicht in dieser Absolutheit, nein. Der «Tages-Anzeiger» hat das Prozedere wie folgt beschrieben: Bei einem Problem können beide Seiten das Schiedsgericht einschalten. Darin sitzen Richter*innen der Schweiz und der EU. Bei ungeklärten Fragen zieht dieses den Europäischen Gerichtshof (EuGH) bei, fällt das Urteil indes selber. Wie das Urteil umgesetzt wird, entscheidet jede Seite selber. Danach kann bei Unmut jede Seite eine Strafe verhängen. Die andere Seite wiederum kann die Verhältnismässigkeit der Strafe vom Schiedsgericht überprüfen lassen.

Dann haben die EU-Richter aber schon viel Gewicht.

Das ist so. Dafür darf die Schweiz bei der EU-Rechtsetzung mitreden. Die Übernahme des EU-Rechts ist zudem auf fünf Marktsektoren sowie auf künftige Verträge beschränkt. Es sind dies heute Personenfreizügigkeit, Handelshemmnisse, Luft- und Landverkehr sowie Landwirtschaft.

Gibt es Verhandlungsspielraum beim EuGH?

Aus EU-Sicht ist die Antwort klar: «Nein, den gibt es nicht», sagte der EU-Botschafter in Bern, Petros Mavromichalis, diese Woche im Interview mit dem «SonntagsBlick».

Der EU-Botschafter in der Schweiz, Petros Mavromichalis, vor dem Parlamentsgebäude in Bern. 
Der EU-Botschafter in der Schweiz, Petros Mavromichalis, vor dem Parlamentsgebäude in Bern. 
Bild: KEYSTONE

Für Alt-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey dagegen ist das letzte Wort noch nicht gesprochen: «Der Brexit-Deal zeigt, dass ein Schiedsgerichts-Mechanismus anders aussehen kann, als dies die EU will», sagte sie ebenfalls diese Woche der NZZ. «Der Bundesrat sollte wenigstens versuchen, den Spielraum des EuGH zu beschränken und in den strittigen Punkten ganz auszuschliessen.»

«Ein Freihandelsabkommen ist etwas grundlegend anderes als ein Marktzugangsabkommen, so wie es die Schweiz hat», sagt dagegen Mavromichalis.

Was, wenn die Schweiz einen neuen Vertrag nicht übernehmen will?

Dann kommt es zu bilateralen Verhandlungen, ausserdem entscheiden in der Schweiz Parlament und Volk. Mavromichalis: «Dieses Recht hat kein anderer Staat im Binnenmarkt.» Und wenn die EU dieses Schweizer Nein nicht akzeptiert? Die EU kann in so einem Fall das Schiedsgerichtsverfahren starten.

Davon unabhängig: Warum wird so leidenschaftlich über die drei Punkte Lohnschutz, Unionsbürger-Richtlinie und staatliche Beihilfen gestritten?

Das ist so einfach wie vertrackt: Ohne eine Klärung dieser Punkte ist das Rahmenabkommen innenpolitisch nicht mehrheitsfähig.

Warum gehen die Gewerkschaften beim Lohnschutz auf die Barrikaden?

Die EU fordert die Schweiz auf, ihre Lohnschutz-Richtlinien zu übernehmen. Das will die Schweiz nicht, um zu verhindern, dass die Schweizer Löhne auf EU-Niveau sinken.

Im Rahmen der Personenfreizügigkeit mit der EU wurden 2004 die flankierenden Massnahmen eingeführt. Diese sollen die Einhaltung von minimalen Arbeits- und Lohnbedingungen sicherstellen. Der EU missfällt unter anderem die Acht-Tage-Regel, die ausländische Firmen dazu verpflichtet, sich mindestens acht Tage vor Arbeitsbeginn in der Schweiz anzumelden.

Und wie reagiert die EU darauf?

Man sei bereit, Zu­sicherungen zu machen, sagte der EU-Botschafter Mavromichalis im Sonntagsblick. «Aber wir werden nicht auf Punkte wie die Acht-Tage-Regel zurückkommen, wo bereits Kompromisse gefunden wurden. Aus unserer Sicht sind einige der flankierenden Massnahmen unvereinbar mit dem EU-Recht und den bilateralen Verträgen.» Eine Voran­meldefrist von vier Tagen für EU-Unternehmen sei genug.

«In ihrer heutigen Form behindern die flankierenden Massnahmen europäische Firmen darin, ihre Dienstleistungen in der Schweiz anzubieten. Das können wir nicht akzeptieren», sagte Mavromichalis.

Das heisst: In der Theorie ist es möglich, dass die EU dereinst den Lohnschutz abschwächt. Dann müsste die Schweiz entweder mitziehen oder Strafen akzeptieren.

Für Alt-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey zeigt der heutige Bundesrat beim Rahmenabkommen keine Führungsstärke.
Für Alt-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey zeigt der heutige Bundesrat beim Rahmenabkommen keine Führungsstärke.
Bild: KEYSTONE

Was ist das Problem bei den staatlichen Beihilfen?

Hier hat die EU Steuererleichterungen und Vergünstigungen für Unternehmen in der Schweiz im Visier. Entsprechend alarmiert sind die Kantone. Konkret fürchten sie etwa, dass Steuervergünstigungen zur Förderung von Firmenansiedlungen gestrichen werden könnten. Im Gegensatz zur Schweiz gilt in der EU ein Verbot von staatlich gewährten finanziellen Vorteilen.

Das heisst?

Die EU möchte das Beihilferecht ins InstA aufnehmen, die Schweiz lehnte dies ab. Die Beihilferegeln des InstA wirken sich konkret nur auf den Luftverkehr aus, sollen künftig «grundsätzlich auch den Rahmen für neue Marktzugangsabkommen bilden», wie im vergangene Woche publizierten Bericht der Europarechtler Christa Tobler, Professorin an der Universität Basel, und Rechtsanwalt Jacques Beglinger steht. Das Freihandelsabkommen wird im Vertragsentwurf angesprochen, es steht aber nicht im eigentlichen Vertragstext.



Bleibt der dritte Knackpunkt: Worum geht es bei der Unionsbürger-Richtlinie?

Die Unionsbürger-Richtlinie regelt das Einreise-, Ausreise- und Aufenthaltsrecht der EU-Bürger. Im Vertragsentwurf wird sie – nach langen Diskussionen und im Sinne eines Kompromisses – nun nicht erwähnt. Zu einem zentralen Streitpunkt ist sie trotzdem geworden. Der Bundesrat wehrt sich dagegen, weil diese Richtlinie arbeitslos gewordenen EU-Ausländer*innen ein Anrecht auf Sozialhilfe geben würde. Tritt der Vertrag in Kraft, könnte die EU das Thema erneut aufbringen.

Klingt vertrackt. Wie geht es weiter?

Der Bundesrat wartet ab und schickt seine neue Staatssekretärin Livia Leu vor. Was sie erreicht, bleibt abzuwarten. «Wenn sie aber nur mit kosmetischen Retuschen zurückkommt, ist das Abkommen chancenlos», findet Alt-Bundesrätin Calmy-Rey in der NZZ deutliche Worte. Der Bundesrat müsse Führungsstärke zeigen. «Das tut er in diesem Dossier nicht.»

Dagegen klingt die EU-Seite schon fast optimistisch: «Ich glaube, mit etwas gutem Willen von beiden Seiten sollte eine Lösung innerhalb der nächsten Wochen möglich sein», sagt EU-Botschafter Mavromichalis.

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