Humanitäre Hilfe in der Ukraine«Weltverbesserer sind nicht richtig in diesem Job»
Von Lia Pescatore
8.4.2022
Michael Kramer war drei Wochen für das Schweizerische Rote Kreuz in der Westukraine unterwegs. Zurück in der Schweiz erzählt er blue News von Dankbarkeit und Misstrauen, von Menschen auf der Durchreise und solchen, die abwarten.
Von Lia Pescatore
08.04.2022, 23:55
09.04.2022, 10:47
Lia Pescatore
Die engere Zusammenarbeit zwischen dem Ukrainischen und dem Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) begann in einer Zeit, als eine Eskalation des Konflikts noch unmöglich erschien – auch für Michael Kramer. «Es ist tragisch und traurig, dass dieser Konflikt eskaliert ist», sagt er. Der 52-jährige Jurist arbeitet in der internationalen Zusammenarbeit des Schweizerischen Roten Kreuzes. War es vor der Eskalation das Ziel der Zusammenarbeit, das Spitex-System in der Ukraine wieder aufzubauen und die finanzielle Unabhängigkeit des Ukrainischen Roten Kreuzes durch Fundraising zu stärken, änderten sich die Bedürfnisse mit dem 24. Februar schlagartig.
Die Zusammenarbeit blieb. Kramer war Teil des ersten Teams der Hilfsorganisation, das drei Wochen nach Kriegsbeginn ins Land reiste, um den Bedarf genau abzuklären.
«Es ging darum, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Menschen zu treffen und eine Bedürfnisanalyse zu machen», sagt Kramer. Und zwar Vertreter von Behörden, dem lokalen Roten Kreuz, der Bevölkerung vor Ort, aber auch den Geflüchteten.
In kurzer Zeit haben sich die Provinzen Iwano-Frankiwsk und Ternopil, in denen sich Kramer bewegte, zu Anlauf- oder Transitpunkten für viele Vertriebene aus den umkämpften Gebieten verwandelt. Anlaufpunkte für die Menschen, die ihrer Heimat nicht ganz den Rücken kehren wollten oder Bedenken hatten, ein Leben im Ausland finanzieren oder aufbauen zu können, erzählt Kramer. Andere versuchten, vom Westen aus ihre Firmen, die sie in Kiew oder Charkiw aufgebaut haben, weiterzuführen. Einige seien nur auf der Durchreise, auf dem Weg über die Grenze.
Um all diesen Menschen eine Unterkunft zu bieten, wurden alte Fabrikgebäude, Sporthallen sowie Schulen zu Flüchtlingszentren genutzt. «Im Austausch wurde schnell klar, dass es in den Zentren an Betten und Matratzen mangelt», so Kramer. Auch medizinische Güter wie gewisse Medikamente, chirurgisches Material oder Generatoren, die Stromausfälle in den Spitälern überbrücken können, seien Mangelware in den medizinischen und sozialen Institutionen. «Es geht nun darum, die nötigen Hilfeleistungen möglichst schnell ins Land zu bringen.»
Es fehlt an Betten, Matratzen und Generatoren
Die ersten Lieferungen an Decken, Schlafmatten und Generatoren seien bereits eingetroffen oder lokal beschafft worden. Bei der Verteilung der Waren halte sich das Schweizerische Rote Kreuz zurück, «das Ukrainische Rote Kreuz ist das Gesicht der Kampagne», das sei für die Nachhaltigkeit wichtig. Zwar wolle das SRK sich für längere Zeit vor Ort engagieren, «doch das Ukrainische Rote Kreuz wird immer da sein».
Die Dankbarkeit und die Solidarität in der Bevölkerung gegenüber seinem Team seien trotzdem gross, teilweise ist es aber auch mit Misstrauen konfrontiert. Umgeschlagen hat die Stimmung Ende März, als ein Bild vom lachenden IKRK-Präsident Peter Maurer zusammen mit dem russischen Aussenminister Sergei Lawrow grosse Aufmerksamkeit erhielt – die Folgen spürte auch Kramer.
«In den ukrainischen sozialen Medien hat es eine regelrechte Desinformationskampagne gegeben», erzählt er. Umso wichtiger sei es gewesen, die humanitären Prinzipien wie die Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit zu erklären. «Das ist zwar eine nicht besonders angenehme Situation, dass das Verständnis einer unparteilichen humanitären Arbeit nicht immer verstanden wird, gehört aber leider in vielen Konfliktsituationen dazu.» Kramer hat zusammen mit dem Ukrainischen Roten Kreuz mit zwei Medienkonferenzen in der Region reagiert, um diese Punkte vor den Medien und der Bevölkerung klarzustellen.
«Für uns ist es einfach, in die behütete Schweiz zurückzukehren»
Man dürfe sich in seinem Job durch solche Situationen nicht aus der Ruhe bringen lassen, sagt Kramer. «Ruhig, sachlich und nüchtern» gehe er vor, mit «einer gewissen Bodenhaftigkeit», sagt er. «Weltverbesserer sind nicht richtig in diesem Job», Realo müsse man sein.
Nach dreieinhalb Wochen hat Kramer die Ukraine wieder verlassen. Er freut sich auf ruhigere Nächte, endlich wieder eine Nacht durchzuschlafen, ohne Unterbrüche durch Fliegeralarme und Stunden im Bunker. Die Rückkehr stimmt ihn aber auch nachdenklich: «Für uns ist es einfach, in die behütete Schweiz zurückzukehren.» Seine Gedanken seien bei den Menschen, die ihre Angst, Hab und Gut zu verlieren, nicht so einfach zurücklassen könnten. «Das ist ihre Heimat.» Vielen bleibe zwar die Hoffnung, dass der offene Konflikt bald zu Ende sein könnte. «Auf einen längeren Stellungskrieg müssen sie sich aber wohl einstellen.»
Auch die Behörden in der Westukraine fangen laut Kramer an, sich um längerfristige Lösungen zu kümmern: «Es wird überlegt, neue Siedlungen für all die Vertriebenen zu bauen.» Noch seien es nur Gedanken. In der Zeit, bis die Konfliktintensität hoffentlich abnehmen werde, befürchtet Kramer, dass es in den umliegenden Ländern zu «Abnützungen» der Solidarität komme und der Konflikt zur Normalität werde. «Wir dürfen den Fokus nicht verlieren.»
Kramer wird sich noch längere Zeit mit der Situation in der Ukraine beschäftigen. Nächste Woche steht bereits eine grosse Lieferung mit 6'000 Betten und Matratzen an, die Kramer von der Schweiz aus verfolgen wird. Doch er ist sich sicher, dass er bald wieder in die Ukraine zurückkehren wird: «Es ist ein Abschied auf Zeit.»