Wie weiter in der Corona-Pandemie? Jetzt ruhen alle Blicke auf dem Bundesrat

Von Gil Bieler

9.8.2021

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Lockern oder nicht: Wie würdest du entscheiden?

Wie sieht der weitere Schweizer Weg in der Corona-Pandemie aus? Der Bundesrat berät diese Woche erstmals nach den Sommerferien über diese Frage – und sieht sich mit grossen Erwartungen konfrontiert.

Von Gil Bieler

9.8.2021

Mit unerwartet umfangreichen Lockerungen der Corona-Massnahmen hat sich der Bundesrat in die Sommerpause verabschiedet. Doch in der Epidemie gab es seither keinen Stillstand.

Die Fallzahlen sind wegen der Delta-Variante wieder über die Marke von 1000 Ansteckungen pro Tag geklettert. Die Impfkampagne hat an Schwung verloren – und mit einem Bevölkerungsanteil von 48,9 Prozent vollständig Geimpften ist die Schweiz Europas Schlusslicht.

Zuletzt äusserten Epidemiologen wie Marcel Salathé und Marcel Tanner die Ansicht, dass nun Lockerungen der Corona-Massnahmen angezeigt wären. «Wir sind jetzt praktisch an einem Punkt angekommen, an dem allzu einschränkende Massnahmen nicht mehr verhältnismässig sind», sagte Salathé in einem Interview mit den Tamedia-Zeitungen.

Angesichts dieser diffizilen Ausgangslage muss der Bundesrat entscheiden: Lockern oder zuwarten? Wenn sich die Landesregierung am Mittwoch zu ihrer Sitzung trifft, stehen nicht nur grosse Fragen, sondern auch unterschiedliche Haltungen im Raum.

Bundesrat Alain Berset

In einem Interview mit der «SonntagsZeitung» dämpfte Alain Berset Hoffnungen auf baldige Lockerungen – die Situation sei «unübersichtlich». «Wenn es gut läuft, sind in wenigen Wochen weitere Lockerungen wie zum Beispiel eine Einschränkung der Maskenpflicht möglich», sagte der Gesundheitsminister. «Wenn die Situation aber unklar bleibt, wäre es dumm, die letzten milden Einschränkungen leichtfertig aufzuheben.»

Gemäss dem 3-Phasen-Modell des Bundesrats befindet sich die Schweiz aktuell in der Stabilisierungsphase. Wann wird er den Übergang zur Normalisierungsphase beschliessen? Das wurde Berset vergangene Woche am Locarno Film Festival gefragt.

Die Normalisierungsphase trete dann ein, wenn alle impfwilligen Personen geimpft worden seien. «Wir nähern uns dem an», sagte Berset, und meinte, dass Ende August ein möglicher Zeitpunkt dafür wäre.

Den Anwendungsbereich des Covid-Zertifikats auszudehnen, wie dies zuletzt vermehrt gefordert wurde, hält Berset für nicht angezeigt – obwohl das in anderen Ländern bereits gemacht wird. «Wir haben in der Pandemie immer unseren eigenen Weg verfolgt.»

Bei früheren Gelegenheiten hatte der Bundesrat klargemacht, dass die Zahl der Hospitalisierungen das wesentliche Kriterium für die weitere Pandemie-Strategie sei. Müssten im 7-Tage-Schnitt wieder mehr als 120 Personen wegen Covid hospitalisiert werden, wären auch Verschärfungen denkbar. So steht es im 3-Phasen-Modell. Davon ist die Schweiz noch ein gutes Stück entfernt: Den aktuellsten Zahlen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) zufolge lag der Wert zuletzt bei 17 Hospitalisationen.

Bundesrat Alain Berset zu Besuch am Locarno Film Festival.
Bundesrat Alain Berset zu Besuch am Locarno Film Festival.
Bild: Keystone/Urs Flüeler

Lukas Engelberger

Die Stimmung im Land sei «sehr volatil», sagte Lukas Engelberger am Freitag in einem Interview mit den Zeitungen der Tamedia-Gruppe. «Steigen die Fallzahlen, wird nach Verschärfungen gerufen. Flacht die Welle wieder ab, werden Lockerungen gefordert.» Angesichts dieser unsicheren Ausgangslage hofft der Präsident der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren vor allem auf Besonnenheit: «Dass der Bundesrat aktuell und nach dem Stand der Wissenschaft eine Bestandesaufnahme macht und entsprechend Schritte vorzeichnet.»

Grosse Veränderungen in die eine oder andere Richtung erwarte er aber nicht, so Engelberger weiter. Auch wäre es fehl am Platz, wenn der Bundesrat nun wieder eine stärkere Führungsrolle übernähme: Die Kantone seien grundsätzlich für die öffentliche Gesundheit zuständig. «Es ist daher richtig, dass sie ihre Verantwortung wahrnehmen.»

Zugleich äusserte Engelberger die Vermutung, viele würden mit der Impfung bis nach ihren Ferien zuwarten. «Der Monat August wird entscheidend sein, um die Impfquote zu steigern. Sollte dies nicht gelingen, dann werde ich sehr beunruhigt sein.»

Der Basler Regierungsrat Lukas Engelberger ist Präsident der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren.
Der Basler Regierungsrat Lukas Engelberger ist Präsident der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren.
Bild: Keystone

Forderungen der Politik

Auch die Politik befasst sich mit der Frage, wie es in der Pandemie weitergehen soll. Wobei die Meinungen auseinandergehen.

«Jetzt die Massnahmen zu lockern, wäre verfrüht», sagt Ruth Humbel, Mitte-Nationalrätin und Präsidentin der nationalrätlichen Gesundheitskommission. «Erst muss man das Ende der Sommerferien abwarten und beobachten, ob Reiserückkehrer oder Virusvarianten einen Einfluss auf die epidemiologische Lage haben.»

Dennoch sei auch für sie klar: «Ewig kann man die Massnahmen nicht aufrechterhalten, nur weil sich die Verweigerer nicht impfen lassen wollen. Das kommt einer Bestrafung für alle Geimpften gleich», sagt sie im Gespräch mit «blue News».

Der Bundesrat habe mit seinem 3-Phasen-Modell ein überzeugendes Vorgehen skizziert, findet die Aargauerin. Jetzt müsse er aufzeigen, anhand welcher Kriterien der Übergang von der Stabilisierungs- in die Normalisierungsphase erfolgen solle.

Ein guter Richtwert sei dabei sicherlich die Zahl der Hospitalisierungen. «In der Statistik sollte aber ausgewiesen werden, ob geimpfte oder ungeimpfte Personen ins Spital eingeliefert werden müssen», findet Humbel. «Die Impfskeptiker behaupten, die Impfung nütze nichts. So könnte man Transparenz schaffen.»

Wichtig sei auch, dass im Falle einer erneut hohen Belastung der Spitäler andere Patient*innen nicht mehr hinten anstehen müssten: «Es kann nicht sein, dass jemand mit Krebs warten muss, weil ungeimpfte Covid-Patienten behandelt werden müssen.»

Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel.
Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel.
Bild: Keystone

Grünen-Parteipräsident Balthasar Glättli findet, dass es nach den Sommerferien nochmals einen «Impf-Effort» brauche – mit Aufklärung auch in Fremdsprachen, um Migrantinnen und Migranten zu erreichen. Auch die Jugendlichen müssten speziell angesprochen werden. Danach sei aber klar, dass «der Moment kommt, wo Einschränkungen für die gesamte Bevölkerung unverhältnismässig werden», sagte der Zürcher Nationalrat zu «20 Minuten». 

Unbehagen bereitet Glättli die Zahl der Hospitalisierungen. «Sie ist um 50 Prozent höher als vor einem Jahr. Delta scheint also recht aggressiv zu sein.» Auch denke er mit Besorgnis an jene Personen, die sich nicht impfen lassen könnten.

Grünen-Parteichef und Nationalrat Balthasar Glättli.
Grünen-Parteichef und Nationalrat Balthasar Glättli.
Bild: Keystone

Die SVP dagegen ist für eine Aufhebung der Corona-Massnahmen, wie Fraktionschef Thomas Aeschi – der ebenfalls in der Gesundheitskommission des Nationalrats sitzt – auf Anfrage sagt: «Es ist höchste Zeit, in die Normalisierungsphase überzugehen. Alle, die wollen, sind mittlerweile geimpft.» Das schliesst er daraus, dass die Kantone ihre Kapazitäten für die Impfkampagne wieder herunterfahren.

Für Aeschi gehört auch die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr sowie in Läden gestrichen. «Das Covid-Zertifikat braucht es nur noch für internationale Reisen, weil das im Ausland verlangt wird.» Im Inland dagegen müsse eine Ausdehnung der Zertifikatspflicht unbedingt verhindert werden.

«In den Clubs und an Grossveranstaltungen hat das Zertifikat vielleicht noch eine gewisse Berechtigung. Doch auch da muss der Bundesrat ein Ende aufzeigen.» Denn für Aeschi steht fest: «Wer sich gegen eine Impfung entscheidet, aber in einen Club geht, muss dieses Ansteckungsrisiko in Kauf nehmen. Das gehört zur Eigenverantwortung dazu.»

Die im europäischen Vergleich tiefe Durchimpfungsquote oder Unsicherheitsfaktoren wie die Delta-Variante und die Reisetätigkeit bereiten dem Zuger Nationalrat keine Sorgen: Die Impfung schütze auch gegen die Delta-Variante sehr gut, die Auslastung der Intensivbetten in den Spitälern sei tief. «Wir sind daher nicht mehr in der gleichen Situation wie noch im letzten Jahr.»

Thomas Aeschi, Nationalrat und Fraktionspräsident der SVP. 
Thomas Aeschi, Nationalrat und Fraktionspräsident der SVP. 
Bild: Keystone

Covid-19-Taskforce

Die wissenschaftliche Covid-19-Taskforce, die den Bundesrat berät, befasst sich in ihrer jüngsten Lagebeurteilung vorab mit zwei Fragen, die miteinander zusammenhängen: Wie kann das Tempo der Durchimfpung erhöht werden? Und wie lässt sich abschätzen, ob sich alle Impfwilligen mittlerweile auch impfen lassen konnten?

Die Taskforce verweist auf ein Vorgehen, das sich in anderen Ländern bewährt habe: So werde die Bevölkerung in Spanien oder Grossbritannien direkt von den Behörden kontaktiert, um die Impfung zu besprechen. In beiden Ländern sei bei Personen über 50 eine sehr hohe Durchimpfungsrate erreicht worden.

Auch in der Schweiz könnten Ungeimpfte direkt kontaktiert werden. «Wer sich impfen lassen will, würde dabei unterstützt werden, einen Termin im nächstgelegenen Impfzentrum, beim Hausarzt, in einer Apotheke oder einer mobilen Einrichtung zu bekommen», regt die Taskforce an.

Zusätzlich müsse weiterhin alles unternommen werden, um die Impfung möglichst einfach und mit geringem Aufwand zugänglich zu machen.

Weshalb mehr Tempo angezeigt wäre, umschreibt die Taskforce wie folgt: Falls die Impfgeschwindigkeit nicht gesteigert werden könne, hätten erst Ende September 60 Prozent der Bevölkerung eine erste Impfung erhalten. Für einen vollen Impfschutz dauere es dann noch einmal sechs Wochen länger.

Ein langer Zeitraum also, in dem viele Menschen nicht gegen das Virus geschützt sind. Sollte sich ein grosser Teil von ihnen in den nächsten Monaten infizieren, werde das zu einem Engpass im Gesundheitssystem führen, warnte Taskforce-Präsident Martin Ackermann vergangene Woche vor den Medien. Er erinnerte auch daran, dass die Impfung schwere Krankheitsverläufe verhindere. Sein Appell lautete darum: «Lassen Sie sich so bald wie möglich impfen!»

Martin Ackermann, Präsident der wissenschaftlichen Covid-19-Taskforce des Bundesrats.
Martin Ackermann, Präsident der wissenschaftlichen Covid-19-Taskforce des Bundesrats.
Bild: Keystone