Deutschland13-Jährige versteckt, missbraucht und Polizei in die Irre geführt?
Von Rochus Görgen, dpa
22.3.2018
Monatelang suchte die Polizei in Cottbus nach einem heute 13 Jahre alten Mädchen. Jetzt sitzen ihre Mutter und deren Lebensgefährte in Haft. Wurden die Fahnder kaltschnäuzig in die Irre geführt?
Anfangs sieht es wie eine typische Ausreisser-Geschichte einer Jugendlichen aus. Ein Mädchen verschwindet aus einem Wohnheim in Cottbus. In einem Brief an ihre Mutter soll die 12-jährige ihr Verschwinden sogar angekündigt haben. Rund ein halbes Jahr später nimmt der Fall allerdings eine dramatische Wende. Wurde das Mädchen von ihrer eigenen Mutter und deren Lebenspartner versteckt und sexuell missbraucht?
Monatelang suchte die Polizei mit Hochdruck nach dem Teenager. Auf dem Fahndungsplakat der Polizei strahlt das Mädchen scheinbar glücklich in die Kamera. Im Fahndungsaufruf hiess es, es sei 1,60 Meter gross und trage blonde, mittellange Haare. Das Kind habe kein Handy und offenbar auch kein Geld. Eine heisse Spur können die Ermittler trotz immer neuer Aufrufe nicht finden.
Erst diese Woche gibt es dann die Wende: Ein Richter ordnet die Durchsuchung der Wohnung der Mutter in Gross Schacksdorf etwas östlich von Cottbus an - dort wird die inzwischen 13-Jährige gefunden. Wie lange das Kind bereits wieder in der elterlichen Wohnung ist, ob sie freiwillig dahin zurückkehrte oder dazu gezwungen wurde, ist unklar. Gegen die 52 Jahre alte Mutter und deren Lebensgefährten (46) wird Haftbefehl erlassen. Gegen sie wird nicht nur wegen des Verdachts auf Freiheitsberaubung ermittelt - sondern auch wegen sexuellen Missbrauchs.
Nach einem Bericht der «Bild»-Zeitung soll das Mädchen über Monate in einem verschliessbaren Schrank in einer leerstehenden Wohnung gefangen gehalten worden sein - gleich neben der Wohnung der Mutter in einem Mehrfamilienhaus. Die «Lausitzer Rundschau» berichtete, das Gebäude liege in der Waldsiedlung, einer ehemaligen Armeesiedlung. Details wollen die Ermittler zum Schutz des Opfers nicht nennen.
Allerdings: Es gibt den Verdacht, dass Mutter und Stiefvater Polizei und Öffentlichkeit bewusst in die Irre führten. War der Brief der heute 13-Jährigen, über den die Polizei in der Fahndung berichtet hatte, womöglich auf Druck der Mutter und ihres Lebensgefährten geschrieben worden?
Die Frau und ihr Partner sitzen nun in Untersuchungshaft. Während die Mutter ausgesagt habe, schweige der Mann zu den Vorwürfen, sagt Staatsanwaltschaftsprecherin Petra Hertwig. Einzelheiten verraten die Ermittler nicht. Die Untersuchungen dürften noch einige Zeit dauern. Allein die Auswertung von beschlagnahmten Computerdaten werde etwa zwei Monate dauern, sagt Hertwig. Danach könnte es am Landgericht Cottbus einen spektakulären Prozess geben. Das Mädchen wurde indes in die Obhut des Jugendamtes übergeben.
Der Fall weckt Erinnerungen
Noch gibt es in diesem Kriminalfall mehr Fragen als Antworten. Er weckt jedoch Erinnerungen an den Fall von Natascha Kampusch, die als Zehnjährige auf dem Schulweg in Wien entführt und acht Jahre lang in einem Keller gefangen gehalten worden war. Erst im August 2006 gelang ihr die Flucht, ihr Entführer brachte sich später um.
In Österreich wird 2008 bekannt, dass ein Mann seine Tochter 24 Jahre lang in ein Kellerverlies sperrte und missbrauchte. 2015 wird ein 23-jähriger Japaner verhaftet, der ein Mädchen zwei Jahre lang festgehalten haben soll. Und bereits 1996 wurden im Fall Marc Dutroux zwei Mädchen aus einem Kellerverlies in Belgien befreit.
Nach Angaben der Initiative Vermisste Kinder werden jedes Jahr mehr als 60'000 Kinder und Jugendliche in Deutschland vermisst. In mehr als 99 Prozent aller Fälle tauchten die Vermissten aber wohlbehalten wieder auf. Das macht es der Polizei schwer, sogenannte Ausreisser von Entführungsopfern zu unterscheiden.
Als ihr Leid begann: Vor 20 Jahren wurde Natascha Kampusch entführt
2. März 1998: Die zehn Jahre alte Natascha Kampusch verschwindet in der Früh auf dem Weg in die Volksschule in Wien-Floridsdorf. Ihre Eltern alarmieren am Abend die Polizei.
Bild: Keystone
3. März 1998: Eine Schülerin erzählt der Polizei, dass sie beobachtet hat, dass Kampusch in einen weissen Bus gezerrt worden ist.
Bild: Keystone
6. April 1998: Wolfgang Priklopil wird in Strasshof in Niederösterreich von Ermittlern aufgesucht. Er besitzt einen weissen Lieferwagen.
Bild: Keystone
14. April 1998: Ein Hundeführer der Wiener Polizei macht das Sicherheitsbüro erneut auf den Verdächtigen Priklopil in Strasshof aufmerksam. Dem Hinweis wird nicht nachgegangen.
Bild: Keystone
23. August 2006: Aus ihrem Verlies in der Nähe von Wien kann sich Kampusch selbst befreien. Ihr 44-jähriger Entführer wirft sich kurz danach vor eine S-Bahn in der Nähe des Wiener Praters.
Bild: Keystone
Von aussen war der Eingang zum Verliess durch einen Schrank versteckt.
Bild: Keystone
6. September 2006: Kampusch gibt früher als erwartet ihr erstes TV-Interview.
Bild: Keystone
Aussenansicht des Justizministeriums in Wien. Im Februar 2008 setzt Österreichs Innenminister eine Evaluierungskommission ein, die den Fall untersuchen soll. Am 23. Oktober 2008 wird der Fall Kampusch neu aufgerollt.
Bild: Keystone
8. Januar 2010: Die Akten werden wieder geschlossen: Polizei und Staatsanwaltschaft sind überzeugt, dass Priklopil keine Komplizen oder Mitwisser hatte.
Bild: Keystone
Ein Freund des Entführers, Ernst Holzapfel, wird aber wegen Begünstigung angeklagt. Er soll nach Kampuschs' Entkommen von der Entführung erfahren und Priklopil bei der Flucht geholfen haben.
Bild: Keystone
April 2013: Ein internationales Expertenteam bestätigt, dass Priklopil «mit hoher Wahrscheinlichkeit» keine Mithelfer hatte und Einzeltäter war.
Bild: Keystone
Natascha Kampusch spricht immer wieder in den Medien über ihre 8jährige Gefangenschaft. Hier bei Günther Jauch im ARD Fernsehen am 17. Februar 2013.
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28. Februar 2013: Die Verfilmung des Schicksals von Kampusch anhand ihrer Biografie namens «3096 Tage» kommt in die deutschen Kinos.
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Februar 2016: Die Wiener Polizei prüft nach einer Anzeige die Todesumstände des Entführers erneut.
Bild: Keystone
Im März 2016 wird bekannt, dass Priklopil sein Opfer während der Gefangenschaft gefilmt hatte. Die Ermittler stufen das mehrstündige Videomaterial als nicht relevant ein. Im Juni 2016 verliert Kampusch vor dem Landgericht Köln eine einstweilige Verfügung gegen das Buch «Der Entführungsfall Natascha Kampusch - Die ganze beschämende Wahrheit». Die Wienerin betrachtete die Schilderung des Videomaterials von Priklopil als Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts.
Bild: Keystone
August 2016: Zum zehnten Jahrestag ihrer Flucht bringt Kampusch ihr zweites Buch «10 Jahre Freiheit» heraus.
Marc Dutroux (Mitte) entführte in den 90er Jahren sechs Mädchen, folterte und vergewaltigte sie. Vier tötete er.
Bild: Keystone
Die Entführungsserie beginnt am 24. Juni 1995: Die vier Mädchen Julie und Mélissa (beide 8, im Bild) verschwinden spurlos, am 22. August auch An (17) und Eefje (19). Sie sterben in Dutrouxs Kellerverlies.
Bild: Keystone
Das Haus des Grauens.
Bild: Keystone
28. Mai 1996: Die 12 Jahre alte Sabine Dardenne verschwindet in Kain, ungefähr 85 Kilometer südwestlich von Brüssel.
Bild: Keystone
9. August 1996: Die 14-jährige Laetitia Delhez wird in ihrem Heimatort Bertrix im Süden von Belgien entführt.
Bild: Keystone
13. August 1996: Dutroux, seine Frau und ein Komplize werden festgenommen. 15. August 1996: Nach Geständnissen des Komplizen und von Dutroux werden Laetitia Delhez und Sabine Dardenne aus Dutrouxs Keller befreit.
Bild: Keystone
Die getöteten Mädchen Melissa und Julie.
Bild: Keystone
23. April 1998: Dutroux flüchtet bei einem Gerichtstermin in Neufchateau und wird drei Stunden später in einem Wald gefasst.
Bild: Keystone/Yves Logghe
1. März 2004: Der Mordprozess gegen Dutroux und drei Mitangeklagte beginnt im südbelgischen Arlon.
Bild: Keystone
22. Juni 2004: Das Gericht verurteilt Dutroux zu lebenslanger Haft. Seine damalige Frau erhält als Mittäterin 30 Jahre Gefängnis.
Bild: Keystone/Yves Logghe
Dutroux-Opfer Laetitia Delhez bei der Gerichtsverhandlung.
Bild: Keystone
2004: Sabine Dardenne wurde ebenfalls von Marc Dutroux missbraucht.
Bild: Keystone/Jean Pierre Clement
15. Dezember 2004: Dutroux scheitert mit seinem Antrag auf Wiederaufnahme des Prozesses. Seine Verurteilung ist rechtskräftig. 17. Januar 2005: Aus Protest gegen seine Haftbedingungen tritt Dutroux in den Hungerstreik, den er nach zwei Tagen wieder beendet.
Bild: Keystone
31. Juli 2012: Ein Gericht entscheidet, dass Dutroux Frau vorzeitig freikommt und künftig in einem Kloster leben darf.
Bild: Keystone/Geert Vanden Wijngaert
28. August 2012: Ein Berufungsgericht lehnt den Widerspruch von Opferfamilien ab. Die Frau kommt nach 16 Jahren vorzeitig frei, steht aber weiter unter Aufsicht der Justizbehörden.
Bild: Keystone
14. September 2012: Dutroux stellt einen Antrag auf vorzeitige Entlassung aus dem Gefängnis. 18. Februar 2013: Die Brüsseler Haftprüfungskammer lehnt Dutroux Antrag ab, seine restliche Strafe mit einer elektronischen Fussfessel im Hausarrest abzusitzen.
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