Corona in der Dauerkrise «Aladdin» lenkt Venezuela ein wenig von den Problemen ab

AP/toko

10.6.2020

Eine Nachbarschaftsinitiative in Caracas will mit Filmnächten in der Corona-Krise Ruhe schaffen und Gemeinschaftssinn stiften.
Eine Nachbarschaftsinitiative in Caracas will mit Filmnächten in der Corona-Krise Ruhe schaffen und Gemeinschaftssinn stiften.
Bild: Ariana Cubillos/AP/dpa

Gewalt, Armut und dann auch noch Corona: Die venezolanische Stadt Petare hat mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Eine Nachbarschaftsinitiative will mit Filmnächten Ruhe schaffen und Gemeinschaftssinn stiften.

Mit dem Anbruch der Nacht wenden sich in einem der grössten Elendsquartiere Venezuelas alle Augen der provisorischen Leinwand auf einer Terrasse zu. Familien steigen gemeinsam die engen Stufen hinauf, drängen sich unter Decken eng zusammen und rücken Stühle, damit für alle Platz ist. Einige lehnen sich aus ihren Küchenfenstern und spähen durch die kreuz und quer gespannten Stromkabel hindurch. Gezeigt wird am Abend der Disney-Film «Aladdin», eine willkommene Ablenkung von der Corona-Pandemie und der Gewalt in Petare im Grossraum Caracas.

Willkommene Ablenkung

«Wir machen Popcorn», erzählt die Bewohnerin Adriana Carillo durch die geöffnete Eingangstür ihres Hauses, während ihre fünfjährige Tochter Aranza Sofia Guerrero neben ihr zappelt. «Das ist eine tolle Ablenkung, besonders für die Kinder.» Wie sie empfinden es hunderte Familien, die das politische Hickhack in ihrem Land in den vergangenen Wochen das Fernsehsignal gekostet hat.

Die Pandemie trifft Venezuela inmitten einer seit Jahren andauernden politischen und sozialen Krise. Zwar ist das Land vom Coronavirus nicht so stark betroffen wie andere Länder der Region wie Brasilien, Peru und Ecuador; bisher wurden offiziell nur gut 1600 Erkrankungen und 17 Todesfälle bestätigt. Dennoch befürchten nicht wenige, dass das Gesundheitssystem unter einem Ansturm von Erkrankten zusammenbrechen könnte.

Die Versorgungslage in Venezuela war schon vor dem Ausbruch der Coronavirus-Krise fatal und die Menschen müssen derzeit weiterhin vielerorts Schlange stehen. 
Die Versorgungslage in Venezuela war schon vor dem Ausbruch der Coronavirus-Krise fatal und die Menschen müssen derzeit weiterhin vielerorts Schlange stehen. 
KEYSTONE/AP/Ariana Cubillos (Archivbild)

Die US-Sanktionen, die den venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro treffen sollen, zwangen DirecTV erst kürzlich, sein Satellitensignal zu kappen. Damit haben die meisten Familien in Städten wie Petare keine Möglichkeit mehr, einen Film im Fernsehen zu sehen. Eine Gruppe von Nachbarn wollte das nicht hinnehmen und organisierte das Filmprojekt mit Unterstützung von örtlichen Hilfsorganisationen. Sie stellten die Leinwand auf und richteten den Projektor und Lautsprecher auf der Terrasse einer Anhöhe ein, um Familien Unterhaltung zu bieten — unter Berücksichtigung der Abstandsregeln, die auch in Venezuela gelten.

Die Gruppe, die sich «Zona de Descarga» (Download-Zone) nennt, hat Erfahrung mit solchen Projekten. Sie zeigt schon seit sieben Jahren Filme in der Öffentlichkeit mit dem Ziel, in den Armensiedlungen und Arbeitervierteln von Petare einen Gemeinschaftssinn zu schaffen. Einer der Organisatoren, Jimmy Pérez, erklärt, die Quarantäneregeln und das fehlende Satellitensignal mache ihre Filmnächte noch bedeutender für die Menschen. Die Gruppe nutze dabei die Dachterrassen, die in der venezolanischen Kultur ohnehin eine grosse Bedeutung hätten.

Filme für hoffnungsvolle Botschaften

«Es sind unsere Terrassen, auf denen wir träumen und zusammenkommen», sagt Pérez. «Dort nehmen wir Abschied von jedem Jahr, zünden beim Karneval Feuerwerkskörper und lassen Drachen steigen.» Die «Zona de Descarga» verfolgt ausdrücklich keine politischen Ziele, sondern wählt familienfreundliche Filme aus, um hoffnungsvolle Botschaften zu verbreiten. Sie wechselt zwischen den Stadtteilen und zeigt eine Woche lang jeweils einen Film pro Abend. Damit will sie auch den Blick auf Petare verändern, das häufig nur als Hort von Gewalt und Armut wahrgenommen wird: Die Organisatoren stellen Menschen aus der Stadt vor, die es beruflich weit gebracht haben.



Viele der Zuschauer von «Aladdin» erzählen dennoch, dass sie ein Revierkampf zwischen kriminellen Banden im vergangenen Monat noch stark beschäftige. Mehrere Nacht lang seien Schüsse zu hören gewesen. Eine Nachbarin sagt, sie habe einen Polizeihelikopter vor ihrer Haustür gesehen und sei geflüchtet.

An diesem Abend hallt jedoch nur die Musik von «Aladdin» über die Dächer der Nachbarschaft. Der Film erzählt die Geschichte eines arabischen Strassenjungen, der trotz aller Hindernisse das Herz einer Prinzessin gewinnt.

Der neunjährige Santiago Vega spielt um diese Zeit normalerweise auf seinem Tablet. Heute ist er dankbar für die Abwechslung, während er zwischen seinen Vater und seinen Onkel gekuschelt den Film sieht. «Ich würde gerne meine Grosseltern sehen und meine Cousins», sagt er, während er überlegt, ob er wohl seinen bevorstehenden Geburtstag am 4. Juli feiern kann. «Aber ich kann nicht, wegen alldem.»


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