Floyd-Urteil Die «blaue Mauer des Schweigens» bröckelt

AP/toko

24.4.2021

Der Polizeichef von Minneapolis, Medaria Arradondo, tritt im Prozess um den Mord an George Floyd als Zeuge auf.
Der Polizeichef von Minneapolis, Medaria Arradondo, tritt im Prozess um den Mord an George Floyd als Zeuge auf.
Court TV via AP/Pool/KEYSTONE

Jahrelang haben Polizeichefs in den USA vor rassistischer Gewalt in den eigenen Reihen die Augen verschlossen. Mit dem Schuldspruch im Floyd-Prozess ändert sich das nun.

Schon kurz nach dem Schuldspruch im Prozess um den gewaltsamen Tod von George Floyd meldeten sich Polizeichefs aus den gesamten USA zu Wort – und zwar nicht, um die Polizei zu verteidigen. Das Urteil der Geschworenen gegen den ehemaligen Polizisten von Minneapolis Derek Chauvin zeige, dass «Polizeibeamte nicht über den Gesetz stehen», sagte Polizeikommissar Shaun Ferguson aus New Orleans. Seine Kollegin Charmaine McGuffey aus Cincinnati sprach von einem notwendigen Schritt zur Heilung des durch Polizeigewalt gespaltenen Landes. Der Polizeichef von Miami, Art Acevedo, ermunterte die Amerikaner zu einem «kollektiven Aufatmen».

Führende Strafverfolger bezeichneten Chauvins Schuldspruch vom Dienstag als Schritt zur Wiederherstellung des Vertrauens in das Strafrechtssystem und zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen Polizei und Bevölkerung. Damit schlugen sie ganz andere Töne an als in den vergangenen Jahren: Damals hatten sich in Fällen tödlicher Polizeigewalt noch die ranghöchsten Beamten hinter die Verantwortlichen gestellt.

«Nicht immer allen Amerikanern gute Dienste getan»

Doch sowohl Polizeichefs als auch Aktivisten mahnten nun, dass ein Einzelfall systematischem Rassismus und massloser Polizeigewalt landesweit kein Ende setzen werde. «Das US-Justizsystem hat nicht immer allen Amerikanern gute Dienste getan, und der Tod von George Floyd ist ein schockierendes Beispiel dafür, wo wir versagen können», sagt Shon Barnes aus Madison im US-Staat Wisconsin, der erste schwarze Polizeichef der Stadt. «Heute hat die Gerechtigkeit gesiegt. Wir hören Euch. Dieser Moment zählt.»



Im Prozess gegen Chauvin sahen die Geschworenen Videos von Passanten und aus Bodycams der Polizei. Sie hörten die Aussagen von Zeugen, die beschrieben, wie der weisse Beamte sein Knie in den Nacken des Afroamerikaners drückte, der flehte: «Ich kann nicht atmen.» Der Polizeichef von Minneapolis Medaria Arradondo sagte gegen Chauvin aus. Er durchbrach damit die «blaue Mauer des Schweigens», die es lange erschwert hatte, Polizisten für Fehlverhalten im Dienst zur Verantwortung zu ziehen. Chauvins Vorgehen habe gegen die Richtlinien der Polizeibehörde verstossen und sei «sicher nicht Teil unseres Ethos oder unserer Werte», sagte Arradondo.

Selbst einige Polizeigewerkschaften begrüssten das Urteil als gerecht. Der Vorsitzende der New Yorker Vertretung, Patrick Lynch, sagte: «Was Derek Chauvin an diesem Tag getan hat, war keine Polizeiarbeit. Es war Mord.»

Radikales Umdenken gefordert

Floyds Tod im Mai vergangenen Jahres hatte tägliche Proteste in den ganzen USA ausgelöst. Aktivisten fordern ein radikales Umdenken zur Rolle der Polizei in der Gesellschaft. Seitdem haben einige Polizeibehörden Änderungen vorgenommen, wie etwa ein Verbot von Würgegriffen. Und in vielen US-Staaten debattieren die Parlamente über mögliche Polizeireformen.

Aktivisten, die systematische Veränderungen fordern, kritisieren solche Schritte als nicht weitreichend genug. Doch Chauvins Verurteilung weckte bei vielen Hoffnung, nachdem in der Vergangenheit Polizisten nach Tötungen von Afroamerikanern straffrei geblieben waren. Der Schuldspruch deute darauf hin, dass das Land anfange, die Klagen der schwarzen Community über Polizeigewalt ernst zu nehmen, sagte der Aktivist Isaac Wallner.

Ein einzelnes Urteil führe aber nicht dazu, dass er sich in seiner Heimatstadt Kenosha in Wisconsin nun sicher fühle, erklärte er. Dort waren nach der Erschiessung des Afroamerikaners Jacob Blake im vergangenen Jahr keine Polizisten angeklagt worden. «Bis zu dem Tag, an dem Polizisten Angst davor haben, ihre Dienstmarke zu missbrauchen, werde ich weiterhin Angst vor der Polizei haben», sagte Wallner. «Momentan haben sie noch keine Angst, weil zu viele von ihnen davongekommen sind.»



Dass das Urteil nur ein erster Schritt sein kann, betonen auch führende Polizisten in grossen und kleinen US-Städten. «Der Einsatz für Gerechtigkeit für George Floyd endet nicht heute», sagte der Polizeichef von San Francisco, William Scott. Die Polizei müsse die Lektionen lernen, «die die Geschichte uns ehrlich gesagt schon seit Jahrzehnten zu lehren versucht». Darin Balaam, Sheriff in Washoe County in Nevada, erklärte: «Es ist höchste Zeit, dass wir Polizeibeamte, die unseren Berufsstand und Amtseid beschädigen, für beklagenswerte Taten zur Rechenschaft ziehen.»