Indien Brutaler Mord an Mädchen in Kaschmir wird zum Politikum

Von Aijaz Hussain und Muneeza Naqvi, AP

16.4.2018

Seit dem Wahlsieg der hinduistisch-nationalistischen BJP verschärfen sich die religiösen Spannungen in Indien. Die Reaktionen nach dem Sexualmord an einer Achtjährigen markieren einen neuen Tiefpunkt im Konflikt zwischen radikalen Hindus und Muslimen.

Das Mädchen war gerade acht Jahre alt, als es an einem kalten Januartag im Vorgebirge des Himalaya beim Ponyhüten entführt wurde. Eine Woche später fand man in den Wäldern seine missbrauchte, verstümmelte Leiche.

Während die Gruppenvergewaltigung und Ermordung einer jungen Frau in Neu Delhi im Jahr 2012 Hunderttausende Inder auf die Strasse gebracht hatte, um strengere Gesetze gegen Vergewaltigung zu fordern, zog der Sexualmord an dem muslimischen Mädchen im indisch kontrollierten Kaschmir ganz andere Proteste nach sich: Tausende radikale Hindus mit Verbindungen zur Regierungspartei demonstrierten für die Freilassung der sechs Männer, denen die wiederholte Vergewaltigung, Folter und Ermordung des Mädchens in einem Hindu-Tempel vorgeworfen wird. Auch Hunderte hinduistische Anwälte protestierten gegen die Festnahme der sechs Hindus, unter denen auch zwei Polizeibeamte sind.

Im verfassungsmässig säkularen Indien mit 1,3 Milliarden Einwohnern gab es immer Differenzen zwischen der muslimischen Minderheit und der hinduistischen Mehrheit. Seit der Unabhängigkeit Indiens von Grossbritannien 1947, als der Subkontinent aufgeteilt wurde in das mehrheitlich hinduistische Indien und das mehrheitlich muslimische Pakistan, flammten immer wieder blutige, religiös motivierte Unruhen auf. Das tägliche Zusammenleben zwischen Hindus und Muslimen verlief jedoch grösstenteils friedlich.

Doch 2014, als nach einem klaren Wahlsieg die hinduistisch-nationalistische BJP an die Macht kam, verwandelte sich die zuvor höfliche Distanz in eine offene Spaltung. Mit der Zunahme von Übergriffen extremistischer Hindu-Gruppen fühlen sich religiöse Minderheiten, vor allem die 13 Prozent Muslime, zunehmend isoliert.

Tat war offenbar länger geplant worden

So war es auch in Kathua, der kleinen Stadt im Staat Jammu und Kaschmir, wo das Mädchen ermordet wurde. Der Übergriff war nach Polizeiangaben mehr als einen Monat geplant worden, um die Bakarwals, muslimische Nomaden, aus dem Gebiet zu vertreiben. In den vergangenen Jahren hatte es dort immer wieder Landstreitigkeiten zwischen den Nomaden und örtlichen Hindus gegeben. Die Hindus warfen den Hirten vor, auf ihr Land vorzudringen. Nach angeblichen Belästigungen von Mädchen des Nomadenvolks durch hinduistische Männer war es zu Tätlichkeiten gekommen.

In Kaschmir gibt es mehr als eine Million nomadische Hirten, darunter die Bakarwals, die vor allem Schaf-, Ziegen- und Pferdeherden halten. Seit Jahrhunderten ziehen sie jeden Sommer auf die Weiden und in die Wälder der Hochebenen. Im Winter kehren sie in provisorische Unterkünfte in den Ebenen Jammus zurück.

Doch in den vergangenen 20 Jahren begannen einige mit dem Bau fester Häuser, normalerweise in den Wäldern, was zu Konflikten mit den ansässigen Hindus führte. «Seit einiger Zeit sind die Spannungen zwischen Muslimen und einigen Hindus gross», sagt Javaid Rahi, der die Jammu-Kashmir Tribal Foundation leitet, eine Stiftung zur Erforschung des Nomadenvolks des Staates. «Die Krise verschärfte sich besonders, seit die BJP an die Macht gekommen ist und einige fanatische Hindus in Jammu die Stimmung polarisiert haben.»

Nach der Entführung geriet das Ganze ausser Kontrolle

Nach Polizeiangaben war der Überfall auf das Mädchen religiös-politisch motiviert: Eine Gruppe Männer aus der Gegend planten, mit der Entführung eines Mädchens die Bakarwals zu vergraulen. Doch nach der Entführung geriet das Ganze ausser Kontrolle: Nach dem Befund der Gerichtsmedizin wurde die Achtjährige mit Medikamenten ruhig gestellt, mehrfach vergewaltigt, angezündet, mit einem Stein erschlagen und gewürgt. In einem Wald wurde eine Woche später ihre Leiche gefunden.

Während die tödliche Massenvergewaltigung 2012 in Neu Delhi die Nation aufschreckte und zögerliche Behörden und Politiker zum Handeln zwang, so wurzelt der brutale Sexualmord in Kaschmir in der spaltenden Religionspolitik der vergangenen vier Jahre. Bald nach der Festnahme der Verdächtigen marschierten Mitglieder der extremistischen Hindu Unity Platform mit einer indischen Fahne durch die Strassen von Jammu, der grössten Stadt Südkaschmirs, skandierten «Lang lebe Indien!» und forderten die Freilassung der Männer. Die Gruppe hat Verbindungen zur regierenden BJP - zwei Abgeordnete der Regierungspartei sprachen sich öffentlich für die Verdächtigen aus.

Vor einer Woche versuchten hinduistische Anwälte in Kathua, die Übergabe des Ermittlungsberichts ans örtliche Gericht zu verhindern. Die Juristen behaupteten, die Ermittlungen seien fehlerhaft und die sechs Verdächtigen hereingelegt worden. Die Polizei musste erst Verstärkung anfordern, bevor sie den Bericht am Haus des Richters abgeben konnte. Neben den sechs Verdächtigen, von denen sich einer auch an der Suche nach der Leiche beteiligt haben soll, wurden zwei weitere Polizisten festgenommen - wegen des Versuchs, Beweismaterial zu zerstören.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch verurteilte die Reaktionen scharf: «Zu viele BJP-Anhänger scheinen bereit zu sein, ihre harte Haltung gegen sexuelle Gewalt aufgrund religiöser Vorurteile aufzugeben. Der Polizei zufolge war die Vergewaltigung und Ermordung Teil eines Plans, die muslimische Gemeinschaft aus der Gegend zu vertreiben. Doch für die örtlichen Anwälte und andere BJP-Anhänger waren hinduistische Verdächtige und ein muslimisches Opfer Grund genug, die Strafverfolgung in diesem Fall zu blockieren», heisst es in einer Erklärung vom vergangenen Mittwoch.

Auch viele Hindus der Region sind empört: «Es ist schrecklich, dass manche Menschen dieses furchtbare Verbrechen durch ein religiöses Prisma sehen, um es politisch zu instrumentalisieren», sagt die pensionierte Lehrerin Girdhari Lal in Jammu. «Damit ist ein neuer Tiefpunkt erreicht. Ich weiss nicht, ob wir danach noch tiefer sinken können.»

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