Gestohlen nach der Geburt Mutter nach 42 Jahren mit ihrem Sohn vereint

AP/toko

30.8.2023 - 15:23

Jimmy Thyden, rechts, umarmt Maria Angelica Gonzalez, seine chilenische leibliche Mutter, als sie sich zum ersten Mal im chilenischen Valdivia treffen.
Jimmy Thyden, rechts, umarmt Maria Angelica Gonzalez, seine chilenische leibliche Mutter, als sie sich zum ersten Mal im chilenischen Valdivia treffen.
Constanza Del Rio/Nos Buscamos via AP/Keystone

Handel mit gestohlenen Babys – das war in den Jahren unter Diktator Pinochet in Chile keine Seltenheit. Jetzt hat eines dieser Kinder seine biologische Familie gefunden. Es ist ein zutiefst emotionales Wiedersehen.

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  • Jimmy Thyden wurde als Säugling nach seiner Geburt in Chile gestohlen. Damals nahmen Spitalmitarbeiter seiner Mutter María Angélica González den neugeborenen Sohn weg.
  • Nach 42 Jahren trifft er zum ersten Mal seine biologische Mutter.
  • Die gemeinnützige chilenische Organisation Nos Buscamos schätzt, dass in den Jahren der Menschenrechtsverstösse unter Diktator Pinochet Zehntausende Babys gestohlen wurden.

«Hola, Mamá». Was wie eine ganz normale Begrüssung zwischen Kind und Mutter klingt, ist in diesem Fall alles andere als das. Vor 42 Jahren nahmen Spitalmitarbeiter María Angélica González ihren neugeborenen Sohn weg, kurz, nachdem er das Licht der Welt erblickt hatte.

Später sagten sie ihr, dass er gestorben sei. Jetzt hat sie ihn zum ersten Mal wiedergesehen, in ihrem Haus in Valdivia in Chile. «Ich liebe Dich sehr», sagte Jimmy Lippert Thyden seiner Mutter auf Spanisch, als sie sich unter Tränen umarmten.

«Mir ist die Luft weggeblieben...Die Tragweite dieses Augenblicks hat mir die Luft abgeschnürt», sagte Thyden nach der Wiedervereinigung. «Wie umarmst du jemanden auf eine Weise, die 42 Jahre von Umarmungen nachholt?»

Sie sagten, ihr Sohn sei gestorben

Die Suche nach seiner Geburtsfamilie, die er nie kannte, begann im April. Da las er Berichte über in Chile geborene Adoptivkinder, die mit ihren leiblichen Verwandten wiedervereint worden waren – mit der Hilfe einer chilenischen gemeinnützigen Organisation namens Nos Buscamos. Sie fand heraus, dass Thyden in einem Spital in Santiago vorzeitig zur Welt kam. Während er im Brutkasten lag, wurde González aus dem Spital entlassen. Als sie zurückkehrte, um ihr Baby heimzuholen, sagte man ihr, dass es gestorben und seine Leiche beseitigt worden sei, wie aus der Vorgangsakte hervorgeht, die Thyden für die AP zusammenfasste. 

«Die Unterlagen, die ich über meine Adoption habe, besagen, dass ich keine lebenden Angehörigen habe. Und in den vergangenen Monaten erfuhr ich, dass ich eine Mama und vier Brüder und eine Schwester habe», so Thyden, der in Ashburn im US-Staat Virginia als Strafverteidiger arbeitet, Leute vertritt, «die aussehen wie ich», die sich keinen Rechtsanwalt leisten können.

Zehntausende Babys gestohlen

Nos Buscamos schätzt, dass in den 1970ern und 1980ern in Chile Zehntausende Babys gestohlen wurden. Die Organisation stützt sich dabei auf einen Bericht polizeilicher Ermittler. Diese hatten die Papierpässe chilenischer Kinder nachgeprüft, die das Land verliessen und nie zurückkehrten. «Die wahre Geschichte ist, dass diese Kinder armen Familien gestohlen wurden, armen Frauen, die nichts davon wussten. Sie waren wehrlos», sagt Constanza del Río, Gründerin und Leiterin von Nos Buscamos.

Der Kinderhandel fiel mit zahlreichen anderen Menschenrechtsverletzungen während der 17-jährigen Herrschaft von General Augusto Pinochet zusammen, der 1973 einen Putsch zum Sturz des marxistischen Präsidenten Salvador Allende angeführt hatte. In der Zeit seiner Diktatur wurden laut Regierungsstatistiken  mindestens 3095 Menschen getötet und Zehntausende mehr gefoltert oder aus politischen Gründen inhaftiert. 

Auch seinen Bruder Jonathan Gonzalez trifft er hier zum ersten Mal.
Auch seinen Bruder Jonathan Gonzalez trifft er hier zum ersten Mal.
Constanza Del Rio/Nos Buscamos via AP/Keystone

In den vergangenen neun Jahren hat Nos Buscamos über 450 Wiedervereinigungen zwischen Adoptivkindern und deren Blutsverwandten organisiert, wie del Río sagt. Es gibt auch andere Gruppen, die Ähnliches leisten, so Hijos y Madres del Silencio in Chile und Connecting Roots in den USA. Nos Buscamos arbeitet mit der Plattform MyHeritage für Ahnenforschung zusammen, die chilenischen Adoptivkindern und mutmasslichen Opfern von Kinderhandel kostenlose DNA-Testkits für daheim zur Verfügung stellt.

Thydens Test bestätigte, dass er 100-prozentig chilenisch ist und verknüpfte ihn mit einem Cousin, der ebenfalls die MyHeritage-Plattform benutzt. Thyden schickte ihm seine Adoptionspapiere, die einen in Chile sehr üblichen Namen enthielten: María Angélica González. Wie sich herausstellte, hatte sein Cousin eine María Angélica González mütterlicherseits in der Familie und half ihm, Verbindung zu ihr aufzunehmen.

Aber González nahm anfangs keine Telefonanrufe von ihm entgegen, bis er ihr ein Foto von seiner Frau und seinen Töchtern zukommen liess. «Da brachen die Dämme», erzählt Thyden, der dann noch mehr Fotos schickte, von der amerikanischen Familie, die ihn adoptiert hatte, seiner Zeit in der US-Marineinfanterie, seiner Hochzeit und von vielen anderen besonderen Ereignissen in seinem Leben. «Ich habe versucht, 42 Jahre eines Lebens einzurahmen, die ihr genommen wurden. Die uns Beiden genommen wurden», so Thyden.

«Ozeane an Tränen um dich geweint»

Er reiste schliesslich nach Chile, mit seiner Frau Johannah und ihren zwei gemeinsamen Töchtern, der achtjährigen Ebba Joy und der fünfjährigen Betty Grace. Als Thyden das Haus seiner Mutter betrat, wurde er mit 42 farbenfrohen Luftballons begrüsst, jeder symbolisierte ein Jahr der verlorenen Zeit mit seiner chilenischen Familie.

Thyden klingt es noch in den Ohren, wie seine Geburtsmutter reagierte, als sie das erste Mal mit ihm sprach. «Mein Sohn, Du hast keine Ahnung, welche Ozeane an Tränen ich um dich geweint habe», zitiert er González' Worte. «Wie viele Nächte ich wach gelegen und gebetet habe, dass Gott mich lange genug leben lässt, um zu erfahren, was mit dir geschehen ist.»

Thyden hat zusammen mit seiner Frau und seinen Töchtern den Zoo in Santiago besucht – seine zweite Visite, denn seine Adoptionseltern hatten ihn einst dorthin gebracht. Wie Thyden sagt, haben sie seine Wiedervereinigung mit seiner biologischen Familie unterstützt. Sie seien «unwissentliche Opfer» eines ausgedehnten illegalen Adoptionsnetzwerkes, so Thyden. «Meine Eltern wollten eine Familie, aber sie wollten sie niemals auf diese Weise.»