Hamburg 1919Die Sülzeunruhen – halbverweste Ratten, Hundeköpfe und Volkszorn
Von Philipp Dahm
23.6.2019
Hamburg vor 100 Jahren: Die Sülzeunruhen kosten 80 Bürger das Leben, Unzählige werden verletzt. Hunger, blanke Not, aber auch Gerüchte und Gewinnsucht befeuerten die Eskalation.
Hamburger leidet nicht erst, seit der Erste Weltkrieg vorbei ist. Bereits von 1916 an werden Lebensmittel rationiert, und die Missernte jenes Jahres verschlimmert die Situation noch.
Als 1918 die Kämpfe enden, geht der Krieg im Inneren los: Im November kommt es zu Aufständen von Soldaten und Matrosen, die blutig niedergeschlagen werden. Es gärt im gefallenen Deutschen Reich. Auch gutbetuchte Hamburger Kaufleute haben Angst – vor allem vor einem Umsturz durch Anhänger der Kommunisten Partei Deutschlands.
Kein Wunder: Der Spartakusaufstand zum Jahreswechsel 1918/1919 hat sie in Alarmbereitschaft versetzt. Die Händler und Reeder finanzieren also ein Freikorps, das vor allem aus früheren Soldaten, Studenten und dem Nachwuchs der Mittelschicht besteht. Die Truppe nennt sich «Die Bahrenfelder» – nach einem Arbeiterquartier der Hansestadt.
«Hurra, Hundekopf!»
Der 23. Juni 1919 ist in Hamburg ein bewölkter Sommertag. In der Kleinen Reichenstrasse unweit des Rathauses verlädt ein Fuhrmann Fässer der Fleischwarenfabrik Heil & Co. Es handelt sich um Abfälle, die Bauern aus der Umgebung als Dünger einsetzen. Als eines der Fässer vom Wagen fällt und aufschlägt, ergiesst sich eine «breiige, undefinierbare Masse» vor die Füsse einiger Arbeiter.
Der stinkende Schlamm wirkt so gar nicht wie die «Sülze von grösstem Nährwert und delikatem Geschmack», wie Heil seine Wurst in der Werbung anpreist. Mitglieder des Arbeiterrats verlangen umgehend, die Fabrik zu inspizieren: Panscht der Besitzer sein Fleisch etwa? Die Männer öffnen einen Bottich, ziehen etwas heraus – jemand sagt: «Hurra, da haben wir ja den Hundekopf!» Nicht lustig finden das rund 200 Schaulustige, die mittlerweile zusammengekommen sind.
Auch sie wollen nun in der Fabrik nach dem Rechten sehen – und entdecken «Felle und Häute», die «mit einer dicken Schimmelschicht überzogen» sind. Immer mehr Bürger strömen zur Fabrik: Bald sieht sich die herbeigerufene Polizei einem 1'000 Mann starken Mob gegenüber, der ruft: «Wenn die Behörde uns nicht helfen kann, dann helfen wir uns selber!» Den Fabrikbesitzer, der dem Mob in die Hände gefallen ist, verpügeln sie.
Leder-Zusätze als Nahrungsmittel
Ein Krankenwagen fährt vor, der ihn ins Spital bringen soll, doch die Aufständischen lenken ihn um, fahren zum Rathausmarkt und stossen Jacob Heil dort in die Alster. Polizisten können den Gebeutelten aus dem Wasser ziehen und ins Rathaus bringen. Die wütende Menge will ihn zurück: Erst nach mehreren Schüssen aus der Schreckschusspistole und der Zusicherung des Polizeichefs, Heil werde zur Rechenschaft gezogen werden, gehen die Menschen auseinander.
Doch schon um neun Uhr am folgenden Morgen sammelt sich das Volk wieder vor der Fabrik, vor Heils Kontor und dem Rathaus. Wie schon am Vortag werden Angestellte der Heil-Fabrik ergriffen, geschlagen und mitunter auf dem Rathausmarkt an den Pranger gestellt. Auch andere Fleischbetriebe werden durchsucht und auseinandergenommen. Die überforderte Polizei greift nicht ein, verspricht jedoch, Fleisch-Panscher bestrafen zu wollen. Dennoch stürmen die Menschen am Mittag das Kriegsversorgungsamt, werden rabiat, klauen Essensmarken.
Die Wut der Bürger ist nicht unbegründet: Nach dem Krieg werfen die Hersteller von Surrogaten alles in ihre Ersatznahrung, was sie kriegen können. Material, das – wie Heil selbst sagt – «nicht für menschliche Ernährung, sondern für Lederzwecke verwendet» werden sollte, führe er als Fabrikant wieder der «Ernährung der Menschheit» zu.
MG-Salven aufs Rathaus
Dass die Lage immer weiter eskaliert, liegt auch an den Gerüchten, die kursieren: «Ausgeweidete Ratten» und «Fell von einer Marderart» hätte die Polizei gefunden. Die «Hamburger Volkszeitung» verbreitet, «halbverarbeitete Hunde [und] Katzen» seien beschlagnahmt worden – und man erzählt sich, die Angestellten der Fleischfabriken bekämen täglich üppiges Schweigegeld.
Nachdem der Mob will das Rathaus stürmen will und nur mit Wasserwerfern, Schreckschusspistolen und Tränengas daran gehindert werden kann, schlägt die Stunde der «Bahrenfelder». Am Abend rücken 150 Stahlhelmträger mit vier MGs an, als ein Passant einem Soldaten eine Handgranate entreisst und sie auf die Veteranen wirft. Sie prallt ab und verletzt bei der Detonation einen Jungen, es kommt zum Handgemenge, Schüsse fallen. Am Abend ist ein Demonstrant tot, 15 Personen sind verletzt.
In der Stadt heisst es, die Freikorpstruppe habe auf die Demonstranten geschossen: Militante eröffnen deshalb das Feuer aufs Rathaus und nehmen die verhassten «Bahrenfelder» unter schweren Beschuss. MGs, Gewehre und Pistolen hat sich das Volk im Laufe der Tage besorgt: «Alleine das [nahegelegene] Waffengeschäft Vandrey ist vom 24. Auf den 25. Juni dreimal geplündert worden», schreibt der Autor einer Facharbeit über das Drama.
Reichwehr-Aufmarsch: «Fenster zu, Strasse frei»
Am 25. Juni wird in Hamburg der Belagerungszustand ausgerufen. Dass die Menge das Rathaus im Verlauf stürmen kann, macht ein Missverständnis möglich: Ddie Bahrenfelder legen nach vermeintlich erfolgreichen Gesprächen mit Arbeiterführern über einen Waffenstillstand die Waffen ab, bevor der Mob ins Rathaus eindringt. 14 von ihnen sterben, 42 werden verletzt. Nun droht Berlin, die Reichswehr nach Hamburg zu schicken, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen.
Obwohl weitere Verhandlungen in der Hansestadt Entspannung versprechen, rückt die Truppe am 27. Juni erstmals und am 1. Juli endgültig in Hamburg ein. Befehligt werden die 10'000 Mann von Paul von Lettow-Vorbeck: Der General hat in den deutschen Kolonien seine Erfahrungen mit der Niederschlagung von Aufständen gesammelt. Der Adlige war dabei, als 1905 in Namibia Angehörige der Herero und Nama vertrieben und ermordet werden.
Seine Männer sind brutal und rücksichtslos: «Fenster zu, Strasse frei», brüllen sie, als sie durch Hamburgs Strassen ziehen und die Bewohner entwaffnen. Das rigorose Vorgehen, Stichwort «Schnelljustiz», lässt die Zahl der Todesopfer von bis dato 15 auf 80 ansteigen. Die Reichswehr übt noch bis zum Dezember 1919 das Kommando über die Hansestadt aus: Sie manifestiert die Militarisierung, die Deutschland direkt in den Zweiten Weltkrieg treibt.
Soziale Spannungen in ganz Europa
Doch das Szenario ist keines, dass auf Deutschland beschränkt ist: Überall in Europa leiden die Menschen unter Hunger und verlangen nach mehr Teilhabe im politischen Leben. Auch in der Schweiz brodelt es: Die sozialen Spannungen entlasden sich hier im Generalstreik vom November 1918, als 250'000 Arbeiter 100'000 Soldaten gegenüberstehen.
Erst die Zusage, Milchpreise zu senken und die Kartoffelknappheit zu bewältigen, kann die explosive Lage wieder beruhigen. Hamburg hat seine Lebensmittelgesetze übrigens schon im Frühjahr 1919 geändert, doch erst nach den Sülzeunruhen endlich auch die Kontrollen verschärft.
Fleischfabrikant Jacob Heil wird übrigens tatsächlich noch einem Richter vorgeführt: Weil er schimmelige und mit Maden durchsetzte Kalbsköpfe verarbeitet hat, wird er im Oktober zu drei Monaten Gefängnis und 1'000 Papiermark Strafe verurteilt. Er gründet kurz darauf eine neue Fleischfabrik.
Ein Mann geht an Tonnen von Müll vorbei, die am Fusse des Wasserkraftwerks am Potpecko-Stausee in Serbien schwimmen. Vor allem Plastikabfälle gelangen durch Nebenflüsse in den Stausee und sammeln sich hier an. Eine serbische Zeitung schrieb bereits von einer «fliessenden Müllhalde». (26.1.2021)
Bild: Darko Vojinovic/AP/dpa
Klein, aber oho: Ein internationales Forscherteam hat auf Madagaskar eine neue Chamäleonart entdeckt, bei der das Männchen lediglich 13,5 Millimeter lang ist. Obwohl das männliche Tier das kleinste unter rund 11'050 Reptilienarten ist, verfügt es in Relation zur Körpergrösse über die grössten Genitalien. Der Grund: Eine erfolgreiche Paarung mit den bedeutend grösseren Weibchen wäre sonst nicht möglich. (28.1.2021)
Bild: Frank Glaw/SNSB-ZSM/dpa
Feuer an der Tankstelle: Die deutsche Rastanlage Hunsrück Ost an der Autobahn A61 ist einer nur knapp einer Katastrophe entgangen, nachdem hier ein Kleintransporter beim Betanken in Vollbrand geriet. Erst die Feuerwehr konnte das Feuer löschen – zuvor hatte der Kassier allerdings richtig reagiert und per Notschalter die ganze Tankanlage ausser Betrieb genommen. (28.1.2021)
Bild: Keystone
Winston hat das Coronavirus besiegt: Der Gorilla erholt sich im Zoo von San Diego nach einer umfangreichen medikamentösen Behandlung von einem schweren Verlauf seiner Corona-Infektion. Bei dem 48-jährigen Silberrücken Winston waren im Zuge der Infektion eine Lungenentzündung und Herzprobleme aufgetreten. Er wurde daraufhin mit einer Antikörper-Therapie, Herzmedikamenten und Antibiotika behandelt. (26.1.2021)
Bild: Ken Bohn/San Diego Zoo Global/dpa
Und sie tun es immer noch: In Rio De Janeiro tummeln sich grosse Menschenmengen auf engem Raum am Strand von Ipanema in Rio de Janeiro. Und das, obwohl Brasilien nach wie vor sehr hohe Corona-Fallzahlen hat.
Bild: Bruna Prado/AP/dpa
Von Ruhe auf einer Parkbank kann hier nicht die Rede sein: Möwen und Tauben schwirren und fliegen um eine Frau in Tokio umher. (26.1.2021)
Bild: Eugene Hoshiko/AP/dpa
Nasskaltes Ende: Zwischen Frauenfeld und Matzingen ist eine 33-jährige Wagenlenkerin bei Glatteis von der Strasse abgekommen und im Murgkanal gelandet. Die Frau wurde mit leichten Verletzungen ins Spital gebracht. (26.1.2021)
Bild: Kapo TG
Banger Blick zum Horizont: Ein freiwilliger Helfer benutzt sein Walkie-Talkie, während er den Vulkan Mount Merapi während einer Eruption überwacht. Der Vulkan, der als einer der gefährlichsten der Welt gilt, ist erneut ausgebrochen und spukte mehrere Stunden glühende Asche und Gestein. (27.1.2021)
Bild: Slamet Riyadi/AP/dpa
Galionsfigur mit Kettensäge: Im ungarischen Szilvásvárad streckt sich ein Feuerwehrmann auf dem Dach eines Zugs, um einen Ast abzusägen, der unter der Schneelast heruntergebrochen ist und die Bahnstrecke blockiert. (25.1.2021)
Bild: Keystone
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