Deutschland Sohn soll Stiefvater getötet haben: Eine Krankheit, eine Familie, ein Mord

dpa

18.2.2018

Der erwachsene Sohn verändert sich, er bedroht und verletzt Menschen. Eltern und Schwester warnen vor seinem Wahn - und fordern eine Therapie. Das Drama können sie nicht verhindern.

Sie hat gewusst, dass es in einer Tragödie endet. «Auf dem Friedhof oder im Gefängnis», sagt Lena Bremer. Zwei Jahre lang hat sie versucht, das Drama aufzuhalten. Gemeinsam mit ihren Eltern wollte sie eine Therapie für ihren psychisch kranken Bruder Felix erreichen, notfalls gegen seinen Willen. Lena Bremer, die ihren richtigen Namen nicht in den Medien lesen möchte, sitzt in ihrer Küche in Berlin. Der Schwester kommen die Tränen: Felix soll im vergangenen Sommer seinen Stiefvater in Reinbek bei Hamburg mit einer Axt erschlagen haben.

Im Wahn, in einer Parallelwelt - Ärzte diagnostizierten bei Felix eine seelische Krankheit, eine paranoide Schizophrenie. Am 16. Februar beginnt das Verfahren wegen Mordverdachts in Lübeck. Es wird darum gehen, ob Felix, heute 32 Jahre alt, seinen Stiefvater getötet hat. Und um die Frage, ob er schuldfähig ist. Bei seiner Festnahme hatte er die Tat bestritten, doch für die Ermittler ist sie erwiesen.

Für seine Familie geht es noch um mehr. Warum war so lange zuvor nichts passiert? Warum haben sich weder Klinikärzte noch Richter bei Felix für eine Zwangstherapie eingesetzt, obwohl sie vom Gesetz her möglich ist? Es sind Fragen, die Ärzte ebenso umtreiben wie das Bundesverfassungsgericht: Wie weit kann der freie Wille eines psychisch kranken Menschen gehen, wenn er zur Gefahr wird?

Lena Bremer ist Mitte 30, Soziologin. Sie hatte gerade begonnen, sich ein Leben in Neuseeland aufzubauen. Im Februar 2015 kommt ihr Bruder Felix sie dort besuchen. «Er erzählte mir, dass ihm sein Professor für seine Geheimdienstarbeit Millionen von Euro schulde», berichtet sie. Dann habe Felix gesagt, der japanische Geheimdienst sei hinter ihm her: Die wollen mich foltern bis ich 113 bin. «Schlimmer als ein Psychothriller», erinnert sich seine Schwester. «Da wurde mir klar, dass er krank ist.»

Die Schwester: Ein kranker Restmensch

Wie war Felix, bevor das alles begann? «Verschlossen, ernst, nie besonders glücklich, manchmal voller Wut, ein Sturkopf», sagt sie. Ein junger Mann, der viel getrunken habe und gekifft, der nicht so gern Verantwortung übernommen habe. Aber auch ein hilfsbereiter und liebenswerter Mensch. Sie sieht ihm ähnlich, ihrem Bruder. «Wir sind Geschwister, wir lieben uns», sagt sie.

Damals in Neuseeland, das scheint der Abschied von ihrem Bruder gewesen zu sein, wie sie ihn kannte. Sie bekommt immer mehr Angst um ihn und zieht schliesslich nach Berlin, um ihn von einer Therapie zu überzeugen. Was ist er heute für sie? «Ein kranker Restmensch», sagt sie. «Jemand, der jederzeit zum Monster mutieren kann.» Paranoide Schizophrenie, was heisst das? «Es bedeutet, dass Menschen einen Wahn in einer Psychose gebildet haben», sagt Andreas Heinz, Neurobiologe, Psychiater, Philosoph und Direktor der Charité-Psychiatrie in Berlin-Mitte. Ein Arzt Ende 50. Die Krankheit, sagt er, treffe weniger als ein Prozent der Bevölkerung. Betroffene fühlen sich in ihrer Parallelwelt zum Beispiel verfolgt. Das heisst: Ängste, permanentes Erleben von Bedrohung und Gefahr. Massives Leiden. «Und damit leider auch manchmal sehr aggressive Gewalttaten.»

Zwei Dritteln kann man mit Medikamenten helfen. Psychotherapie eröffnet Möglichkeiten. Hoffnungslos ist die Krankheit nicht. Aber auch nicht einfach.

Karl Baumann ist Felix' Vater. In seinem Bücherregal steht ein Familienfoto. Felix, der Grösste, lacht darauf. Kann er seinem Sohn noch vertrauen? «Nein. Er ist zu einer Bedrohung für unsere ganze Familie geworden.» Kann er ihm verzeihen? «Nein. Er hat ein Leben genommen.» Kann er ihn noch lieben? «Ja.»

Der Vater: Ich war stolz auf den Burschen

Karl Baumann ist 67, Ingenieur, in Rente, auch sein Name ist geändert. Er hat Felix als Baby erlebt, dann, nach der Trennung von seiner Partnerin vor 30 Jahren, als Teilzeit-Vater. Als der Sohn Anfang 20 ist, wird der Kontakt enger. Karl Baumann besorgt seinem Sohn, der bei Mutter und Stiefvater in Reinbek wohnte, eine kleine Wohnung in Berlin. Felix, ein schwieriger Teenager, kriegt die Kurve. Er schafft seine Lehre. Er holt das Abi auf der Abendschule nach und beginnt ein Studium.

«Ich war stolz wie ein Spanier auf den Burschen», sagt der Vater. Dann habe Felix im Sommer 2015 behauptet, dass Russen hinter ihm her seien. «Völlig irre Sachen», sagt Karl Baumann. Felix habe sich auf ein Experiment eingelassen: Gemeinsam mit seiner Familie meldet er sich in einer psychiatrischen Klinik in Berlin. Vater und Schwester erläutern dem Arzt: «Wir haben den Eindruck, Felix ist krank. Er sagt, er sei nicht krank. Wer hat Recht?»

Ein Arzt habe sich mit Felix unterhalten und vorgeschlagen, dass er in der Klinik bleibt. Nach dieser Antwort sei Felix weggerannt. «Und jetzt?», fragt Karl Baumann. «Da kann man nichts machen», habe der Arzt geantwortet. Es stehe Felix frei, zu gehen. Karl Baumann sieht seinen Sohn im Park, Alufolie über dem Kopf, verwahrlost. «Er hat mir gesagt, so könnten sie ihn nicht abhören.» Gemeinsam mit Tochter Lena versucht der Vater, bei Gericht einen Betreuer für Felix zu bestellen. Der Antrag sei abgelehnt worden, sagen beide. Begründung: Es sei ja nichts vorgefallen.

Wenig später fällt etwas vor. Anfang 2016 habe Felix um Hilfe bei seiner Bachelorarbeit gebeten, erzählt Lena Bremer. Kurz vor dem Treffen kommt die Absage: Es gehe ihm nicht gut. Am nächsten Tag konnte sie ihn per Handy nicht erreichen: «Ich hatte Angst, dass er sich was antut», erinnert sich die Schwester. «Ich hab' bei ihm Sturm geklingelt.» Nichts. «Ich hatte einen Schlüssel. Ich bin da rein.»

Sie sieht einen Schatten im Badezimmer. «Ich dachte zuerst, er hat sich aufgehängt.» Dann sei ihr Bruder plötzlich aus dem dunklen Bad auf sie zugesprungen. «Er greift mich am Hals. Er hat ein Messer in der Hand.» Sie habe in flackernde Augen geblickt. Da, sagt Lena Bremer, sei sie nur noch gerannt.

Sie ruft die Polizei: «Mein Bruder ist psychotisch.» Ein Beamter antwortet: «Ihr Bruder hat sich auch gerade gemeldet. Wegen Hausfriedensbruch.» Sie sieht Felix wenige Minuten später aus dem Haus rennen, schreiend: «Ihr habt mein Gehirn verkauft.» Dann sei der Streifenwagen gekommen.

Die Polizei bringt Felix in die Klinik. Am nächsten Morgen, so erinnert es Lena Bremer, ruft sie dort an: «Lassen Sie ihn bloss nicht gehen.» Die Antwort: Er sei schon weg, nicht auffällig in der Nacht. Lena Bremer sagt, sie habe Strafanzeige gegen ihren Bruder erstattet. Damit habe sie eine Therapie erreichen wollen. Das Verfahren sei eingestellt worden. Begründung: Familienstreitigkeiten.

Der Fall Niels Högel

Der Experte: Zwangseinweisungen sind möglich

Im Berliner Vivantes Klinikum am Urban sieht die Psychiatrie jenseits der geschlossenen Abteilung aus wie eine Lounge. Bunte Wände, weisse Holzbänke. Chefarzt Andreas Bechdolf hat nichts mit Felix' Fall zu tun, er lässt ihn sich nur schildern. Als es um die Bedrohung mit dem Messer geht, wird er hellhörig. «Da hätte unter Umständen die Möglichkeit bestanden, ein Behandlungsangebot zu machen», sagt er. «Wenn jemand aus einem Wahn heraus einen Menschen angreift, kann er in einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie untergebracht werden.» Bis zu 24 Stunden. In dieser Zeit könne ein Richter eine mehrwöchige Zwangseinweisung genehmigen. Ziel: eine Behandlung. Im März 2016 wird Felix mit Messerstichen im Bauch gefunden. Nun verfügt eine Richterin seine Unterbringung in der Psychiatrie. Zwangsweise. Sie hat eine gute Begründung: Suizidversuch. Felix bekommt einen Betreuer. Etwas später, so erzählt die Familie, habe Felix sich bereiterklärt, in der Klinik zu bleiben. Deswegen habe die Richterin die Zwangseinweisung aufgehoben.

Im Krankenhaus hätten die Ärzte keinen Wahn mehr bemerkt, erzählen die Angehörigen. Medikamente gegen Psychosen habe er nicht bekommen, auch weil Felix das vehement abgelehnt habe. Er habe die Messerstiche im Bauch als Küchenunfall dargestellt. Die Ärzte schliessen eine Schizophrenie nicht aus und empfehlen Felix regelmässige Besuche in der Ambulanz. Nach sechs Wochen verlässt er die Klinik.

Die Oma: Er war verschreckt

Maria Bremer, 80, sieht ihren Enkel im Herbst 2016. Ihre letzte Erinnerung ist ein Pizzaessen. «Er war total verschreckt, hat sich immer umgeguckt. Wie auf der Flucht», sagt sie. Maria Bremer, die ebenfalls anders heisst, hat schlaflose Nächte. «Immer, wenn ich etwas Schreckliches im Fernsehen gesehen habe, hab' ich an ihn gedacht. Dass er jemanden vor die U-Bahn stösst. So etwas.» Als die Grossmutter von Felix' Verhaftung erfährt, bricht sie zusammen, ruft den Notarzt.

Für Psychiater Andreas Bechdolf fällt paranoide Schizophrenie nicht vom Himmel. Die Krankheit beginne oft im jungen Erwachsenenalter, es gebe Vorboten, mehrere Jahre vor dem Auftreten von Wahnvorstellungen. Einen Absturz in der Schule. Drogenmissbrauch. Veränderungen beim Denken und bei der Wahrnehmung. Dann sagt er: «Das Verrückte am System ist, dass Menschen, die am intensivsten Unterstützung benötigen, am Ende am wenigsten Behandlung bekommen.» Wenn es Lücken im System gibt, dann ortet Bechdolf sie nicht in den Gesetzen. Er sieht sie bei der Früherkennung psychischer Krankheiten bei jungen Leuten. Da seien die Angebote schlecht. Es mangele an Hilfe, die sie leicht akzeptieren könnten. Sein Kreuzberger Krankenhaus ist auch Vorreiter bei einer Behandlungsform, bei der Klinikpsychiater ihre Patienten zu Hause besuchen und behandeln können. Erst seit Januar ist das überhaupt bundesweit möglich.

Die Mutter: Er ist gefährlich

Ende 2016 taucht Felix aus Berlin ab. Im Januar 2017 nimmt ihn eine Freundin in Hamburg auf. Sie kennt die Vorgeschichte nicht. Nach wenigen Tagen erzählt er auch ihr wirre Geschichten. Später habe er die junge Frau massiv geschlagen, berichtet Felix' Mutter.

Karin Bremer, die ebenfalls anders heisst, fühlt sich da schon völlig hilflos. «Die Polizei, die Ärzte, die Richter, der Betreuer, sie alle haben Akten», sagt sie. Aber wer kennt Felix? Nach der Attacke auf die Freundin in Hamburg habe sie die Berliner Betreuungsrichterin im Februar 2017 noch einmal gewarnt, sagt die Mutter. Felix sei gefährlich. Er müsse in eine Klinik.

Doch die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam. Das Berliner Amtsgericht Charlottenburg schickt Felix einen Brief mit Datum vom 16. August 2017. Es müsse geprüft werden, ob seine Einweisung in eine geschlossene Klinik erforderlich sei. Am 17. August findet Karin Bremer ihren Mann, Felix' Stiefvater, in Reinbek im Garten. Die Axt, die er zum Holzhacken nahm, liegt daneben. Sein Schädel ist zertrümmert. «Ich habe gesagt: Suchen Sie nach meinem Sohn. Er ist der Täter.»

Kann sie Felix noch lieben? «Ja», sagt Karin Bremer. «Ich kann ihm auch verzeihen. Weil das nicht mein Kind war, das diese Tat begangen hat, sondern ein kranker Mensch.» Ihr Vertrauen hat sie in den Staat verloren. «Felix war gefangen in seiner Krankheit», sagt sie. «Und dann sprechen sie von seiner persönlichen Freiheit, sich gegen eine Therapie zu entscheiden.» Und das gelte mehr als der Schutz der Allgemeinheit? «Meinem Mann wurde seine persönliche Freiheit genommen. Er ist tot.»

Der Jurist: Richter sind zu vorsichtig

Charité-Mediziner Andreas Heinz ist der künftige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Er kennt die dunkle Psychiatriegeschichte, den tausendfachen Patientenmord in der Nazizeit. Er hat in den 80er Jahren erlebt, wie Patienten lange weggesperrt waren. Er war dankbar für Reformen. Dennoch sagt er: «Ich bin für Zwangstherapie. Ich finde, Menschen haben ein Recht darauf, dass wir sie aus ihrer Psychose holen.» Danach könnten sie frei entscheiden, ob sie eine Therapie wollen. «In der Psychose haben sie diese Entscheidungsfreiheit nicht.»

Der Lübecker Strafverteidiger Olaf Reinecke, der Felix' Mutter als Nebenklägerin vertritt, sieht Mängel bei der Anwendung der Gesetze, die Zwangseinweisungen und Zwangstherapien erlauben. «Die Richter sind zu vorsichtig», urteilt er. «Es gibt eine enorme Diskrepanz: Erst passiert ganz lange Zeit gar nichts. Nur wenn etwas ganz Schlimmes passiert, dann fällt plötzlich der Hammer.»

Wie es Felix heute geht, weiss sein Pflichtverteidiger im Verfahren, Kai Wohlschläger. Doch er darf nichts sagen. Schweigepflicht.

Könnte Felix bei erwiesener Schuldunfähigkeit im Massregelvollzug eine Therapie gegen seinen Willen bekommen? Axel Dessecker, Jurist in der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, hält das eher für unwahrscheinlich. Die Gesetze lassen Zwangstherapien zwar auch in forensischen Kliniken zu. Aber bei Klagen von Patienten entscheidet das Bundesverfassungsgericht häufig dagegen. Es sei auch die Frage, was eine Therapie gegen den Willen eines Menschen bringe, sagt er.

Für Felix' Familie ist der Psychothriller, in dem sie lebt, nicht vorbei. Lena Bremer hat Angst, dass ihr Bruder sie umbringt, falls er jemals wieder freikommt. Und seine Mutter ist überzeugt, dass er sie auch getötet hätte, wenn sie am 17. August zu Hause gewesen wäre.

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