Prozess weckt bei Tausenden Hoffnung Spaniens gestohlene Kinder: Prozess weckt bei Tausenden Hoffnung

Emilio Rappold, dpa

28.6.2018

Es ist eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte Spaniens: In Kliniken des ganzen Landes sollen über Jahrzehnte bis zu 300'000 Babys verschwunden sein. Viele betroffene Mütter und Väter sind tot. Aber die noch lebenden Opfer schöpfen jetzt neue Hoffnung.

Fuencisla Gómez hat ihre tragische Geschichte schon Hunderte Male erzählt, aber immer noch kullern Tränen über ihre Wangen, und ihre Hände zittern, wenn sie behauptet: «Mein erste Tochter wurde mir bei der Geburt gestohlen.» Die 72-Jährige ist eines von mutmasslich Zehntausenden Opfern des grössten Babyraub- und Kinderhandel-Skandals Spaniens. Nach dem Beginn der Franco-Diktatur (1939-1975) und noch bis Anfang der 90er Jahre sollen nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen und Historikern bis zu 300 000 Neugeborene in Kliniken des ganzen Landes den leiblichen Eltern entrissen worden sein. Auf Nimmerwiedersehen.

Fuencisla, ihr Mann Fernando und Dutzende weitere Betroffene und Sympathisanten versammelten sich am Dienstag und Mittwoch vor dem Landgericht in Madrid. Der erste Prozess gegen ein mutmassliches Mitglied des Babyhändlerrings, der aus Ärzten, Schwestern, Anwälten und Kirchenangehörigen bestanden haben soll, gibt ihnen neue Hoffnung. Deshalb demonstrierten und sangen sie unter sengender Sonne und bei 30 Grad im Schatten stundenlang, hielten unermüdlich Plakate mit der Aufschrift «Gerechtigkeit!» in die Höhe. «Menschenrechte für gestohlene Babys», skandierten sie.

Auf der Anklagebank sitzt Eduardo Vela. Der 85-Jährige, der in den 60er und 70er Jahren Chefgynäkologe des Madrider Krankenhauses San Ramón war, beteuerte vor der zuständigen Richterin seine Unschuld. Die Staatsanwaltschaft fordert elf Jahre Gefängnis. Bei diesem ersten Prozess wird nur über einen einzigen Fall verhandelt, der spanischen Justiz liegen aber nach amtlichen Angaben mehr als 2000 Anzeigen in verschiedenen Regionen vor.

Klägerin ist in diesem Fall keine betroffene Mutter, sondern eines der «gestohlenen Kinder» - die heute 49 Jahre alte Inés Madrigal. Ihre Adoptiv-Mutter habe ihr 2010, als sich die Berichte über den Skandal in den Medien häuften, «alles gestanden», sagte sie vor Journalisten. Ein vermittelnder Geistlicher habe damals von einem «Geschenk des Doktor Vela» gesprochen. Vela soll damals nach den Beschuldigungen der Staatsanwaltschaft unter anderem die Geburtsurkunde der Klägerin und weitere Papiere gefälscht haben.

«Ich weiss nicht, ich kann mich nicht erinnern», lautete die Antwort des Angeklagten vor Gericht fast immer. Dafür erinnert sich Fuencisla nach eigener Darstellung sehr gut an den Arzt. Am 23. Juli 1971 wurde sie ins San Ramón eingeliefert, um ihr erstes Kind zur Welt zu bringen. Sie verbrachte sogar die erste Nacht mit ihrer kleinen Tochter im Klinikbett. Am nächsten Tag sagte man ihr, das Kind sei gestorben. «Meine Tochter war total gesund. Aber was blieb uns anderes übrig, als den Ärzten zu glauben?» Sie habe das tote Kind sehen wollen, am Ende aber auf Anraten von Vela verzichtet.

Was damals vor sich ging, blieb jahrzehntelang im Dunkeln. Als Anfang der 2000er Jahre die ersten Berichte über den Skandal ganz Spanien erschütterten und irgendwann einmal auch die Namen von Vela und der ebenfalls angeklagten, inzwischen aber verstorbenen «Schwester María» fielen, «da fuhr mir und meinem Mann Fernando ein kalter Schauer über den ganzen Körper», erzählt Fuencisla.

Die kleingewachsene Frau - die danach zwei weitere Kinder zur Welt brachte - und ihre Mitstreiterin María Luisa Hernández, sagen der Deutschen Presse-Agentur fast unisono: «Die Schuldigen müssen zur Rechenschaft gezogen werden, aber Rache ist für uns nicht das Wichtigste. Wir haben in erster Linie ein Recht auf die Wahrheit.» Beide Frauen und auch ihre Ehemänner sagen, dass sie die Hoffnung nicht verloren haben, ihre Kinder irgendwann zu finden.

Der 74-jährigen María Luisa, die 1970 im San Ramón einen Sohn zur Welt brachte, wurde damals erzählt, ihr Kind sei aufgrund einer Frühgeburt gestorben. «Dabei war ich im neunten Monat schwanger!» Sie und Ehemann Segundo glauben, dass ihr Sohn heute in Pamplona lebt. Ein DNA-Test sei schon durchgeführt worden, aber die Bürokratie verzögere alles. «Noch konnten wir ihn nicht sehen. Noch wissen wir nicht mit Sicherheit, ob er es ist», sagt Segundo.

Eltern suchen ihre Kinder, Kinder ihre leiblichen Eltern. Doch die Suche gestaltet sich schwierig. Alte Dokumente sind kaum aufzutreiben, die Politik zeigt mangelnden Willen, die Kirche weigert sich, Auskunft zu geben. Einige wenige Betroffene hatten bei ihrer Suche Erfolg, wollten aber nicht vor die Öffentlichkeit.

Opfer des organisierten Babyraubs waren in den ersten Jahren fast nur Regimegegner. Nonnen und Ärzte entführten aus ideologischen Gründen. Die Kinder nicht linientreuer Eltern sollten nach den Vorstellungen des «Generalísimo» Francisco Franco erzogen werden. Der Skandal inspirierte den österreichischen Komponisten Christian Kolonovits 2014 für die Oper «Der Richter - Die verlorenen Kinder».

Irgendwann war das Geld wichtiger als die Ideologie. Das Geschäft war so lukrativ, dass es auch im modernen Spanien noch knapp 20 Jahre nach dem Tod Francos weiterlief. «Schon Ende der 1960er Jahre wurden eine Million Pesetas für ein Baby gezahlt», weiss Madrigal, die als erste in dieser Affäre Anzeige erstattete. Nach heutigem Umrechnungskurs wären das gut 6000 Euro, damals war der Wert viel höher. Den Eltern wurde den Berichten zufolge stets erzählt, die Säuglinge seien tot zur Welt gekommen oder nach der Geburt gestorben.

Vela soll sehr vermögend sein. Die Staatsanwaltschaft fordert von ihm auch Geldstrafen und Entschädigungen. «Uns geht es aber nicht ums Geld. Gier nach Geld hat diesen Skandal mitverursacht. Wir wollen die Wahrheit», sagt auch Madrigal. Die Justiz sei langsam, «weil vermutlich auch bekannte Personen als Empfänger der Babys verwickelt sind», glaubt sie. Madrigal sucht ihre biologischen Eltern. Sie vermutet ihre «echte» Familie im andalusischen Coria del Río und wartet auf Ergebnisse von DNA-Tests. «Ich glaube, ich habe da fünf Geschwister. Ein Traum würde für mich wahr werden.»

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