Flutkatastrophe in Deutschland «Viele weinen, manche funktionieren nur, andere sind total verstört»

Von Sven Hauberg und Anne Funk

16.7.2021

Bild der Zerstörung: In Bad Neuenahr-Ahrweiler steht ein Mann vor den Trümmern, die die Flut hinterlassen hat.
Bild der Zerstörung: In Bad Neuenahr-Ahrweiler steht ein Mann vor den Trümmern, die die Flut hinterlassen hat.
Bild: Keystone

Deutschland erlebt eine Tragödie: Nach den heftigen Überschwemmungen sind Dutzende Tote zu beklagen und noch mehr Vermisste. «blue News» hat mit Betroffenen aus Rheinland-Pfalz gesprochen.

Von Sven Hauberg und Anne Funk

16.7.2021

Es ist eine Katastrophe, wie sie Deutschland seit Langem nicht mehr erlebt hat: In den beiden nordwestlichen Bundesländern Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen haben schwere Regenfälle zu verheerenden Überschwemmungen geführt. Mehr als 90 Todesopfer wurden bislang gezählt, Hunderte Menschen werden noch vermisst. Und die Zahl der Toten dürfte weiter steigen. Denn das ganze Ausmass der Katastrophe zeigt sich erst Stück für Stück.

Besonders schwer getroffen hat es Rheinland-Pfalz, wo bislang etwa 50 Tote registriert wurden. Das Dörfchen Schuld im Landkreis Ahrweiler wurde von den Wassermassen teilweise zerstört, als der normalerweise beschauliche Fluss Ahr über die Ufer getreten war.



Auch in Bad Neuenahr-Ahrweiler, der etwas weiter nördlich gelegenen Kreisstadt, sind die Zerstörungen enorm. Am Tag danach stünden viele der rund 28'000 Einwohner unter Schock, erzählt ein Bewohner der Stadt «blue News». Viele hätten die vergangene Nacht auf den Dächern ihrer Häuser verbracht und seien nun völlig entkräftet. Nun, am Morgen, bietet sich den Menschen ein furchterregendes Bild: Dort, wo das Wasser zurückgeht, stossen Bewohner und Hilfskräfte immer wieder auf Leichen. Die Szenen, sagt der Mann, seien «apokalyptisch».

Weitgehend zerstört und überflutet ist das Dorf Schuld im Kreis Ahrweiler.
Weitgehend zerstört und überflutet ist das Dorf Schuld im Kreis Ahrweiler.
Bild: Keystone

«Ich habe die letzten Stunden noch gar nicht verarbeitet»

Die Soldatin Ann-Kathrin K. lebt im Stadtteil Walporzheim, der direkt an der Ahr gelegen ist. «Meine Wohnung stand etwa kniehoch im Wasser», sagt sie. «Es wird sicherlich Monate dauern, bis das Haus wieder bewohnbar ist. Meine Möbel sind jetzt allesamt Sperrmüll.» Am Mittwochabend, als es bereits heftig regnete, erlebte sie das Anschwellen des Baches hautnah. «Sämtliche Strassen wurden zu Flüssen», erzählt Ann-Kathrin, die an jenem Abend in einem Restaurant sass. «So bin ich in einem Nachbarort gestrandet, wo ich die Nacht über die Feuerwehr unterstützt habe.»



Am heutigen Freitag sei die Lage unübersichtlich, man könne kaum abschätzen, wie viele Tote noch geborgen werden. «Ausserdem sind Teile des Ahrtals immer noch nicht erreichbar. Die Strassen dorthin existieren schlicht nicht mehr.» Ann-Kathrin ist sich sicher: «Diese Flut übersteigt die letzte, schlimmste Flut in der Gegend über mehr als das Doppelte.»

Vor allem aber ist das menschliche Leid enorm. «Viele weinen, manche funktionieren nur, und es gibt Leute, die jetzt total verstört sind und wirre Sachen reden», sagt Ann-Kathrin. «Ich selber habe die letzten Stunden noch gar nicht so richtig verarbeitet, glaube ich.»

«Da war eine grosse Gewalt dahinter»

Glück im Unglück hatte hingegen Franzi Simonis. Sie lebt im 8000-Einwohner-Ort Daun in Rheinland-Pfalz. Weil ihr Haus auf einem Berg steht, war sie selbst nicht unmittelbar vom Hochwasser betroffen. Aber auch sie hat miterlebt, wie das Wasser plötzlich und unaufhaltsam stieg. Durch Daun fliesst die Lieser, ein Bach, der «normalerweise so zwei bis drei Meter breit ist», wie Simonis erzählt. «Von Stunde zu Stunde hat man dann gesehen, dass es immer mehr geworden ist.» Irgendwann sei dann ein Fluss von 30 Metern Breite durch den Ort gerauscht.

Bäume wurden von den Wassermassen ausgerissen, Autos fortgespült, Keller überflutet. Ganze Dörfer waren von der Aussenwelt abgeschnitten. Hochwasser kenne man in Daun, sagt Simonis, «in diesem Ausmass» aber nicht. «Da war eine grosse Gewalt dahinter.» Die Menschen vor Ort hätten sich zwar vorbereiten können – Sandsäcke wurden ausgegeben, Pumpen bereitgestellt. «Aber dass es dann so schlimm geworden ist, war dann schon krass.»



Mittlerweile ist das Wasser zurückgegangen, und man sieht, welche Schäden die Fluten angerichtet haben. Für die Menschen vor Ort in Daun beginnen nun die Aufräumarbeiten. 

Deutschland wird immer wieder von Überschwemmungen heimgesucht. Besonders in Erinnerung ist vielen das sogenannte Jahrhunderthochwasser von 2002, bei dem 21 Menschen ums Leben kamen. In Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz ist diese traurige Marke längst um ein Vielfaches überstiegen. Und das ganze Ausmass der Katastrophe ist noch lange nicht absehbar.

Mitarbeit: Elisa Eberle