Harter Weg nach Europa Vom Flüchtlingsboot zum Helfer in der Coronakrise

AP/toko

27.11.2020 - 00:00

Mbaye Babacar Dioufs Leben als Migrant in Europa nahm eine Wendung zum Besseren, als er im Alter von 28 Jahren in Spanien adoptiert wurde.
Mbaye Babacar Dioufs Leben als Migrant in Europa nahm eine Wendung zum Besseren, als er im Alter von 28 Jahren in Spanien adoptiert wurde.
Keystone/AP/Alvaro Barrientos

Als Jugendlicher wagte er die gefährliche Reise über das Meer. Heute arbeitet Mbaye Babacar Diouf als Pfleger in einem spanischen Krankenhaus. Dort gibt er der Gesellschaft, die ihn aufnahm, etwas zurück – gerade jetzt, in Zeiten der Pandemie.

Die sechs Migranten hören ihm aufmerksam zu. Denn er hat das geschafft, wovon sie alle träumen: Mbaye Babacar Diouf hat sich in Europa eine Existenz aufgebaut. Trotzdem betont der gebürtige Senegalese, dass er keineswegs als Vorbild tauge. Inzwischen habe er in Bilbao zwar eine gute Arbeit. Doch davor sei sein Leben viele Jahre von Ausbeutung und Demütigungen geprägt gewesen – vor allem, weil er seinen Schleppern zunächst noch 4500 Euro geschuldet habe.

«Ich hoffe, dass ihr alle eure Lebensziele erreichen werdet. Aber ich wünsche keinem von euch den vertrackten und harten Weg, den ich selbst durchmachen musste», sagt der 33-jährige Babacar den gerade in Europa angekommenen Männern aus Ghana, Marokko und dem eigenen Heimatland. Es ist ihm wichtig, keine falschen Hoffnungen zu machen – nicht den Anschein zu erwecken, dass eine Flucht nach Europa ein Allheilmittel sei, für das sich das Risiko lohne, im Meer zu ertrinken oder auf ewig ein Dasein im Schatten der Gesellschaft zu fristen.

Zugleich ist sich Babacar aber bewusst, dass sein Beispiel sehr wohl vielen anderen als Ansporn dienen könnte. Er spricht perfekt Spanisch, arbeitet als Pfleger im Universitätskrankenhaus von Bilbao und strahlt im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP eine Mischung aus Selbstvertrauen und Herzlichkeit aus. Er kann es sich sogar leisten, Verwandte in der alten Heimat gelegentlich zu besuchen und sie ansonsten mit Geldüberweisungen zu unterstützen.



Die Ausbreitung des Coronavirus hat den 33-Jährigen allerdings vor eine ganz neue und mitunter sehr emotionale Herausforderung gestellt. «Ich habe Menschen auf See sterben sehen, aber das hier ist anders», sagt Babacar kurz vor dem Beginn einer Nachtschicht. «Ich liebe meine Arbeit, aber es gab Situationen, die mir sehr auf den Magen geschlagen haben.»

Lange bevor Babacar die Stadt im nordspanischen Baskenland als neue Heimat bezeichnen konnte, verbrachte er seine Nächte oft im Freien. Tagsüber versuchte er, als Strassenhändler das von den Schleppern geforderte Geld zu verdienen. Nicht immer konnte er dabei den Kontrollen der Polizei ausweichen. Wenn er daraufhin vorübergehend in einer Zelle landete, schien ihm der Traum, später einmal als Pfleger zu arbeiten, geradezu utopisch zu sein.

Zehn Tage Bootsfahrt

Der Berufswunsch hatte ihn seit seiner Ankunft auf den Kanarischen Inseln begleitet. Im Alter von 15 Jahren, hungrig und dehydriert nach einer zehntägigen Bootsfahrt bei bis zu acht Meter hohen Wellen, beeindruckte ihn die Fürsorge, mit der sich freiwillige Helfer um ihn und die anderen 137 Mitreisenden in seinem Boot kümmerten. «In dem Moment versprach ich mir selbst, eines Tages Pfleger zu werden», sagt Babacar.

Das war 2003. Die sogenannte Atlantikroute nach Europa, also von Westafrika zu der dem Kontinent vorgelagerten spanischen Inselgruppe, wurde damals immer häufiger von Migranten genutzt. Doch nicht alle Boote erreichten ihr Ziel. Hunderte Menschen kamen ums Leben. Babacar beschreibt, wie still es an Bord des hölzernen Fischerbootes wurde, als am siebten Tag der eigenen Überfahrt plötzlich Dutzende auf der Meeresoberfläche treibende Leichen zu sehen waren. «Da wird einem klar, dass es kein Zurück gibt», sagt er. «Entweder du schaffst es oder du stirbst.»

Schlepperbanden bauen Einfluss aus

Aktuell gewinnt die gefährliche Route erneut an Bedeutung. Und die mafiösen Schlepperbanden, die die Überfahrten organisieren, haben ihren Einfluss auch auf europäischem Boden inzwischen stark ausgebaut. Die von ihnen verfolgten Opfer werden oft immer weiter zur Kasse gebeten – ob für Schlafplätze, für Dokumente, die für medizinische Behandlungen benötigt werden oder für den Zugang zu kleineren, nicht selten illegalen Arbeitsmöglichkeiten. Viele Migranten schaffen es auch deswegen nie, sich aus dem Teufelskreis aus Schulden und Irregularität zu befreien.

«Nichts hat sich verändert», sagt Babacar. «Die Reise auf dem Boot kann nach nur wenigen harten Tagen vorbei sein. Aber sich an ein System anzupassen, das uns in einem Schwebezustand hält, auf europäischem Boden zu sein, aber ohne eine Möglichkeit, legal zu arbeiten, ist wie wiedergeboren zu werden und alles von Grund auf neu erlernen zu müssen.»

Die entscheidende Wende im Leben von Babacar war die Begegnung mit Juan Gil. Der Spanier hatte ihn mit einigen privaten Renovierungsarbeiten beauftragt. Bald sass der junge Afrikaner bei jeder Mahlzeit mit am Tisch. Weil Gils Mutter kürzlich gestorben und seine Tochter ausgezogen war, bot er Babacar schliesslich an, bei ihm einzuziehen – dieser konnte damit seinen überteuerten Schlafplatz in einer mit 16 Personen belegten Vier-Zimmer-Wohnung aufgeben.

Als Arzt zurück in die Heimat?

Doch die Unterstützung des heute 74-jährigen Künstlers und ehemaligen Kunstlehrers ging noch weiter. Nach einem langen und teuren Kampf gegen die Bürokratie wurde Babacar als 28-Jähriger offiziell von Gil adoptiert. Seitdem hat er einen spanischen Pass. Und auch sonst wandte sich vieles zum Positiven. Die noch verbliebenen Schulden konnte er zurückzahlen. Er begann eine Ausbildung zum Krankenpfleger und erhielt nach dem Abschluss einen festen Job.

Inzwischen träumt Babacar sogar davon, Medizin zu studieren – und eines Tages als Arzt zurück in die alte Heimat zu gehen. Ausserdem hat er selbst eine Organisation gegründet, mit der er anderen Migranten in Bilbao, aber auch Jugendlichen im Senegal hilft. In dem afrikanischen Land versucht er, eine Schule zu bauen. Er wolle die jungen Menschen dort weder zur Migration ermutigen, noch sie davon abhalten, sagt er.

«Ziel ist es, ihnen kritisches Denken beizubringen, damit sie fundierte Entscheidungen treffen können und nicht in die Fänge der Mafiabanden geraten.»

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