Im Land des Donnerdrachens Wie lebendig ist der Mythos vom Yeti in Bhutan noch?

dpa/jfk

8.11.2018

Sei brav, sonst holt er dich! Kinder in Bhutan wachsen mit Geschichten vom Yeti auf, in denen er wie der Schmutzli auftritt. Das mythische Wesen geniesst im Himalaya-Königreich so viel Respekt, dass er ein eigenes Schutzgebiet bekommen hat.

Nein, hier gebe es keine Yeti-Haut, sagt der buddhistische Mönch Sangey im Kloster Gangtey in Bhutan. Seine Miene ist freundlich, aber seinem Ton ist anzumerken, dass er die Vorstellung für etwas absurd hält. Vielmehr, erklärt er, liege im Inneren des Klosters die Jahrhunderte alte Leiche eines Michums - eines mythologischen Zwergmenschen.

Wegen der angeblichen Yeti-Haut war Reinhold Messner vor langer Zeit mal hier im zentral-bhutanesischen Phobjikha-Tal. Sein deutscher Fotograf soll unerlaubt Fotos gemacht haben und noch am selben Abend so krank geworden sein, dass er ausgeflogen werden musste – eine Art Fluch, glauben manche im kleinen, waldbedeckten Himalaya-Königreich.

Heute dürfen keine Ausländer mehr die Kammer im inneren Heiligtum des Klosters betreten, in der das Kuriosum liegt. Das habe der König verboten, erzählt der 30-jährige Sangey. Er beschreibt die Leiche als einen Meter grossen, ausgehöhlten Körper mit menschenähnlichem Gesicht, Fingern und Zehen und einer Haut wie rauhes Kuhleder.

Aufs Geschlecht achten

In der Folklore kämen Begegnungen mit einem Michum («Kleiner Mann») häufiger vor als jene mit Yetis, so Schriftstellerin Kunzang Choden, Autorin des Buches «Bhutanesische Erzählungen vom Yeti». Michums lebten näher an menschlichen Siedlungen und seien neugieriger. Den über Hunderte Jahre mündlich überlieferten Geschichten zufolge sei der Yeti doppelt so gross wie ein Yak und habe eine hohle Stelle im Rücken, in die er Menschen stecke und davonschleppe, erklärt Choden. Wenn man dem Yeti respektvoll begegne, tue er einem aber nichts.

Zwei junge Mönche durchschreiten die Pforte des Klosters Gangtey im zentral-bhutanesischen Phobjikha-Tal.
Zwei junge Mönche durchschreiten die Pforte des Klosters Gangtey im zentral-bhutanesischen Phobjikha-Tal.
Bild: dpa

Wie im «Land des Donnerdrachens» üblich, bekam die 52-jährige Bäuerin Thuji früher von ihren Eltern erzählt: Sei brav, sonst holt dich der Migoi. So wird der Yeti in Bhutan genannt. Der Name wird etwa «Mygöh» ausgesprochen und bedeutet «Starker Mann». Sie habe noch nie einen gesehen, erzählt Thuji. «Aber wenn ich meine Rinder zum Grasen in den Wald führe, habe ich schon ein bisschen Angst, ich könnte einem Yeti begegnen.»

Was man in dem Fall am besten tue, hänge vom Geschlecht des Yetis ab, erklärte der Schriftsteller Tshering Tashi bei einer Veranstaltung über den Yeti beim bhutanesischen Literaturfestival Mountain Echoes im August. «Wenn es ein männlicher Yeti ist, sagen uns unsere Grosseltern, sollen wir bergauf laufen. Der Grund ist, dass er haarig ist und beim Aufstieg über seine Haare stolpert», sagte Tashi. Vor einem weiblichen Yeti solle man hingegen bergab davonlaufen, da so die grossen, tief hängenden Brüste des Wesens es behinderten.

Haarproben im Labor

Gegenüber Tashi sass auf der Bühne Daniel C. Taylor, der US-Autor von «Yeti: Die Ökologie eines Mysteriums». Das im Vorjahr erschienene Buch erzählt von seinen Expeditionen auf der Suche nach dem Yeti über 60 Jahre. Fakt sei, dass es sich bei den mutmasslichen Yetis, die von Menschen gesehen und deren Fussabdrücke gefunden wurden, um Kragenbären handele, sagt Taylor in seinem Büro in West Virginia, wo er die von ihm gegründete Future Generations University leitet. Er glaube aber an den Yeti als Metapher für die Verbindung der Menschen mit der wilden Natur, von der sie sich immer mehr entfernten.

«Diese Symbole von wilder Natur im domestizierten Leben gibt es in vielen Kulturen», betont der 73 Jahre alte Naturschutz- und Entwicklungsexperte, der in einem indischen Teil des Himalaya aufwuchs. Zum Beispiel nennt er neben dem nordamerikanischen Bigfoot auch Mozarts Figur des Papageno. In Bhutan habe der Glaube an den Yeti bisweilen sehr erfreuliche Folgen, meint Taylor. So wurde im Osten des Landes ein 750 Quadratkilometer grosses Naturschutzgebiet ausdrücklich dafür geschaffen, den Lebensraum des Yetis zu schützen.

Einen Beweis für dessen Existenz gibt es trotz aller Bemühungen nach wie vor nicht. Parallel zu den Expeditionen ausländischer Yeti-Jäger schickt auch Bhutans Königshaus immer wieder Suchtrupps in die bis zu 7500 Meter hohe Berge, wo der Yeti vermutet wird. Der Naturschützer und frühere Diplomat Dasho Benji, ein enger Vertrauter des vorherigen Königs, war lange für die königliche Yeti-Suche zuständig. «Ich habe vor vielen Jahren mal Haarproben an ein Krebslabor in Washington geschickt, und die konnten nicht feststellen, ob sie menschlich waren oder von einem Tier stammten», erinnert er sich.

Glaube an den Yeti schwindet

Das war noch bevor sich der für sein Bruttonationalglück bekannte 800'000-Einwohner-Staat langsam zu modernisieren begann. Seit 1999 gibt es in Bhutan Fernsehen - auch die Mönche im Gangtey-Kloster haben inzwischen einen Apparat. In der kleinen Hauptstadt Thimphu gibt es heute Cafés mit W-LAN. Bhutans behutsam erhaltene traditionelle Kultur ist aber noch allgegenwärtig. Die Aussenwände der Häuser zieren Bilder von den Symboltieren des tibetischen Buddhismus, der Staatsreligion des Königreichs: Tiger, Schneelöwen, Donnerdrachen. Abbildungen und andere Hinweise auf den Yeti sucht man aber - bis auf eine vor Jahren erschienene Briefmarke - vergeblich.

Im nicht weit entfernten Kathmandu, der Hauptstadt Nepals, ist das anders: An gefühlt jeder Ecke steht dort ein Yeti-Café oder bietet ein nach dem Yeti benannter Reiseveranstalter Trekking-Touren an. «Ich denke, wir respektieren den Yeti mehr», erklärt Benji. «Für die ist es nur Kommerz, nicht wirklich Teil ihrer Kultur.»

Choden, die Schriftstellerin, befürchtet allerdings, dass der Glaube an den Yeti auch aus der bhutanesischen Kultur allmählich verschwindet. «Junge Leute sehen ihn als etwas Rückständiges an – etwas, woran alte, ungebildete Leute glauben», meint sie. Als Erzählerin liege es ihr am Herzen, dass die Geschichten fortbestehen – und nicht von Expeditionen und DNA-Analysen entzaubert werden. «Ich will, dass der Yeti Teil des Geheimnisses des Himalaya bleibt.»

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