Zutaten für ein ganzes Mahl «Wildman Steve»: Ein New Yorker futtert sich durch den Central Park

Von Johannes Schmitt-Tegge, dpa, gusi

23.8.2018

Ein Grossstadtdschungel aus Stahl und Beton scheint kein passender Ort für essbare Pflanzen zu sein. Naturkenner Steve Brill weiss es besser und zeigt, wo man im New Yorker Central Park wilde Gewächse findet, die satt machen. Er führt in eine Zeit, bevor es Supermärkte und Bauernhöfe gab.

Steve Brill ist mal wieder auf Nahrungssuche, und heute ist er an einem Baumstumpf vor dem New Yorker Central Park fündig geworden. Brill pflückt eine Handvoll Dachpilze und sagt: «Wenn ihr eine Suppe oder Eintopf macht oder ein paar schmackhaftere Zutaten dünstet, könnt ihr diese hinzufügen.» Herausragend schmecken die hellbraunen, neben parkenden Autos gewachsenen Pilze nicht, aber sie sind essbar - wie so ziemlich alles, was Brill in den Parks der Millionenstadt sammelt.

Steve Brill ist Naturliebhaber, Welterklärer und Hobby-Koch, eine Mischung aus amerikanischem Peter Lustig und Lieblingslehrer aus der Grundschule. Mit seinem Tropenhelm, erdtonfarbener Funktionskleidung und Wanderrucksack samt Rundspaten vermutet man ihn eher auf einer Expedition in tropischen Vegetationszonen. Aber der 69-Jährige führt durch städtische Parks und zeigt Bewohnern des Grossstadtdschungels, was in der Metropole für essbare Schätze spriessen. Die Touren laufen seit Anfang der 1980er, zudem hat Brill mehrere Pflanzen- und Kochbücher geschrieben und eine App zur Erkennung wilder Pflanzen entwickelt. «Wildman Steve» nennt er sich, der «wilde Mann» eben.

Pflanzensammler landete im Gefängnis

Brills Gruppe muss nicht lange suchen. Wenige Schritte vom Treffpunkt im Central Park entfernt wächst die mit Rucola verwandte Virginische Kresse, die wegen ihres scharfen Geschmacks «Poor Man's Pepper» genannt wird. Arme Menschen nutzten den «Arme-Leute-Pfeffer» im 15. Jahrhundert, um halbwegs verdorbenes Essen geniessbar zu machen, erklärt Brill. In Salaten oder zum Kochen mit Kartoffeln und Pasta sei der Kreuzblütler gut, mit Essig, Miso-Sosse und Estragon könne man mit den Samen im Mixer sogar Senf herstellen.

Dann schickt er sie los, den Hügel hinauf: «Bedient euch! Lasst die Wurzeln stecken, diese wachsen nach.» Mit Plastiktüten schleichen sie am Gebüsch entlang und rupfen die grünen Stiele aus. Im Lauf der Tour haben einige bald auch Blätter der als Heilpflanze bekannten Wegmalve (Tee), weissen Gänsefuss (passt gut mit Reis und Spinat) und den nach Zitrone schmeckenden Sauerklee gesammelt. «Ich hätte nie gedacht, dass ich Pflanzen mit Zitronen- und Pfeffergeschmack finden kann», sagt eine Teilnehmerin. «Es gibt sie tonnenweise», sagt Brill. «So ernährten sich die Menschen, bevor es Supermärkte und Bauernhöfe gab.» Die Himbeeren und Brombeeren sollen hier auch bald reif sein.

Brills Touren liefen nicht immer so harmonisch ab, denn gesetzlich ist es verboten, Pflanzen aus den Parks mitzunehmen. 1986 nahmen zwei Parkbeamte in Zivilkleidung an der Führung teil und liessen Brill in Handschellen abführen, nachdem er Löwenzahn gepflückt und gegessen hatte. «Park verpasst Kraut-Experten Maulkorb», schrieb die «New York Daily News». Der damalige Parkbeauftragte Henry Stern habe sich einfach nicht mit der Idee anfreunden können, dass jemand «unsere Parks isst». Das Foto seiner Fingerabdrücke nach der Festnahme hat er auf seine Website gestellt.

Vom Häftling zum Pflanzen-Erklärer

Den Gedanken, dass ein paar gezupfte Kräuter der Grünanlage schaden könnten, hält Brill für absurd. Die Maschinen der Parkbeamten seien viel stärker, ausserdem wecke er in den Menschen - darunter auch viele Kinder und Schulklassen - ein Verständnis für den Naturschutz. «Die Luft, die Atmosphäre, die Meere, da liegen die Probleme», sagt Brill. Und je mehr Touren er anbiete, desto mehr Menschen könnten der natur- und klimafeindlichen Politik von Präsident Donald Trump etwas entgegensetzen.

Den erzieherischen Mehrwert seiner Führungen - oder das «PR-Fiasko» der Festnahme, wie Brill sagt - erkannte wohl auch die Parkbehörde. Sie liess die Anzeige fallen und stellte ihn über vier Jahre als Pflanzen-Erklärer an. Heute gehören Gemeindegärten und Kurse zu Natur und Pflanzenwelt fest zum Freizeitprogramm in New York. Die Farm «Brooklyn Grange» baut auf zwei Dächern jährlich 22 Tonnen Lebensmittel an, auf dem schwimmenden Gemüsegarten «Swale» werden auf einem 25 Meter langen Lastkahn Obst und Gemüse sowie Gewürze angebaut. Beide bieten Workshops und Programme für Freiwillige an.

Eine Chinesin namens Lily gehört zu Brills Stammgästen. «Ich habe seine App, aber manchmal muss ich mein Wissen auffrischen», sagt sie. Was sie mit Brill finde, werde auch in der chinesischen Küche genutzt. Als die Gruppe vor einem Klettenstrauch Halt macht und Brill mit seinem Spaten die Wurzel freilegt, geht Lily mit der Nagelschere ans Werk - die Wurzel ist als Zutat in der japanischen Küche bekannt. Brill hat sie dagegen gedünstet, in Apfelsaft, Weinessig, Sojasosse und Olivenöl mit Knoblauch und Lorbeer eingelegt und daraus veganes Trockenfleisch gemacht. Er verteilt Proben aus einer Tupperdose, die braunen Streifen schmecken köstlich.

Nächste Generation steht schon parat

Brills Tochter Violet tritt schon jetzt in die Fussstapfen des Vaters. Bereits im Alter von zwei Monaten sei sie mit auf seinen Touren gewesen, sagt die 14-Jährige - «so wie andere damit aufwachsen, zum Supermarkt zu gehen». Ihre Freunde würden nicht so viel Zeit im Freien verbringen, die seien eher mit «ihren Geräten und sozialen Netzwerken» beschäftigt. In ihrem Beruf will sie später etwas für die Umwelt tun und dabei so viel wie möglich in der Natur verbringen.

Oder, wie der «Wildman» zu Anrufern auf seiner Mailbox ruft: «Wir sehen uns im Feld!»

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