Karneval ist Hochsaison in Venedig. Doch diesmal ist etwas anders. Drei Monate nach der dramatischen Flut passiert etwas fast Unvorstellbares in einer Stadt, die sonst von Touristen überrannt wird: Venedig beklagt zu wenig Besucher.
Auf dem Weg ins Untergeschoss des Markusdoms riecht es mit jedem Schritt modriger. Die Luft ist feucht, das Licht schummrig. Pierpaolo Campostrini streift mit der Hand am Gemäuer entlang. Er zerreibt ein paar Steinchen mit den Fingern und schleckt dann daran: «Das schmeckt salzig.»
Campostrini ist als Prokurator für die Sicherheit des Markusdoms in Venedig zuständig. Er steht in der Krypta unter der mächtigen Basilika und zeigt auf ein kleines vergittertes Fenster: «Hier kam das Wasser rein, es strömte hinein wie ein Fluss.»
Es war der 12. November, als Venedig untertauchte. Bei der schlimmsten Überschwemmung seit mehr als 50 Jahren stand der grösste Teil der Unesco-Welterbestadt in Italien unter Wasser. Auch ihr bekanntestes Wahrzeichen, der Markusdom, bekam Schäden ab. Das Salzwasser stand in der Krypta und drang durchs Gemäuer. Die Feuchtigkeit zog sich bis nach oben zu den Mosaiken an der Decke. «Es war, als hätte die Mauer geweint», sagt Campostrini.
Viel ist von den Schäden drei Monate danach nicht mehr zu sehen. Aber der Feind sitzt in den Wänden. Die trocknen zwar, das Wasser lässt aber Salz zurück, dass die feinen Gemäuer und den Marmor langsam zersetzt. «Bei einem Erdbeben siehst du die Schäden sofort, aber hier handelt es sich um ein beschleunigtes Altern. Es ist, als wäre eine alte Dame plötzlich um 50 Jahre gealtert», sagt Campostrini.
Vor allem die Häufigkeit, mit der Hochwasser neuerdings kämen, richte grosse Schäden an. Daher soll die Basilika im Frühsommer mit einer etwa hüfthohen gläsernen Barriere «umzäunt» werden.
Durch den Dom strömt goldenes Nachmittagslicht. Ein paar kleine Touristengruppen wandern umher. Draussen vor der Tür wird auf dem Markusplatz der Karneval vorbereitet, der am Samstagabend mit einer Show auf dem Wasser begonnen hat. Karneval ist einer der touristischen Höhepunkte des Jahres in Venedig. Aber dieses Mal ist es anders: Die Stadt ist nicht ausgebucht.
«Wir hatten einen katastrophalen Dezember, mit einer kleinen Erholung um Neujahr herum», sagt Paola Mar, Tourismusbeauftragte der Stadt. Über die rund zwei Wochen langen Karnevalsfeiern bis zum 25. Februar würden zwar mehr Besucher erwartet. «Aber im März wird es wieder sehr wenig sein.»
Denn zum «Acqua Alta» kam der Coronavirus hinzu, weshalb weniger chinesische Touristen kommen. Doch das sei nicht so sehr spürbar, sagt Mar, da die meisten Besucher in Venedig aus den USA und Europa kämen.
Das Problem beim Hochwasser seien auch «Fake News» gewesen. «In Indien dachten einige sogar, wir hatten hier 250 Tote durch das Hochwasser», erzählt sie. Viele glaubten, die Stadt habe kontinuierlich unter Wasser gestanden. Aber die Flut zog sich nach einigen Stunden wieder zurück. Hoteliers sprechen von einer «Psychose» verängstigter Besucher. Sie erzählen, Menschen hätten angerufen und gefragt, ob sie mit ihren Kindern kommen könnten, oder ob es zu gefährlich sei.
Das Hochwasser habe am 12. November 1,87 Meter über dem normalen Meeresspiegel gestanden – das bedeute aber nicht, dass es 1,87 Meter hoch in den Strassen stehe und Menschen untergehen. Das heisse vielmehr: Bei einer Flut von 1,87 Meter steht ein Erwachsener auf dem Markusplatz – dem niedrigsten Punkt Venedigs – ungefähr bis zur Hüfte im Wasser.
Die Bilder von dem Hochwasser hätten den falschen Eindruck hinterlassen, dass ganz Venedig zerstört sei, klagt der venezianische Hotelverband. Die Buchungen seien extrem zurückgegangen. Auch die städtischen Museen inklusive Dogenpalast bemerkten einen Rückgang.
Insgesamt beziffert die Stadt die Schäden durch das Hochwasser auf mehr als eine Milliarde Euro. Aber im Stadtbild sieht man das kaum. Restaurants, Cafés und Bars, Museen und Hotels waren nach wenigen Tagen wieder betriebsbereit.
Es ist eine absurde Situation: Venedig – die Stadt, die wie kaum eine andere unter «Overtourism» leidet – bittet auf einmal um mehr Besucher. Kommune und Hoteliers rufen Journalisten aus dem Ausland auf, Fehlinformationen von einer angeblich kaputten Stadt geradezurücken.
Bürgermeister Luigi Brugnaro redet ohne Unterlass von der Schönheit Venedigs. «Viele meinen, wir stehen immer noch unter Wasser», sagt er. «Aber Venedig ist jetzt noch schöner als normalerweise.» Denn Besucher hätten ausnahmsweise die Chance, eine Stadt zu erleben, die nicht von Touristen erstickt wird. Die Hotels seien normalerweise über Karneval zu 100 Prozent ausgebucht – jetzt nur zu 80 Prozent. «Man kann also in letzter Minute noch ein Hotel buchen, das ist nicht immer so.»
Derselbe Bürgermeister, der nun um Touristen wirbt, warnt sonst vor Massentourismus. Im Juli soll ein Einlasssystem starten, bei dem Tagestouristen zur Kasse gebeten werden. Denn diese sind in Venedig die ungeliebten Besucher. «Das Eintrittsgeld gilt nur für die, die nicht hier übernachten», erklärt Brugnaro. Denn die würden ihre Rucksäcke voll mit Essen, Wasser und Windeln für Babys packen und kein Geld in der Stadt ausgeben. Drei bis zehn Euro soll der Einlass je nach Saison kosten.
Sicher, es ist nur ein Teil der Menschen in Venedig, die nun um Touristen bitten. Der Rest ist einfach froh, dass ein wenig Ruhe eingekehrt ist. Eine Zeit, in der die Stadt reflektieren kann, was es neben dem Tourismus sonst noch gibt, wie die Bürger wieder zurück in das historische Zentrum ziehen können. Und wie das Welterbe vor einer neuen Flut wirklich geschützt werden kann.
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