Wasserkraft durch Klimawandel Stauseen statt Gletscher

SDA

13.11.2019 - 19:04

Stauseen wie dieser im Val Nalps im Kanton Graubünden könnten vielerorts entstehen, wo schmelzende Gletscher Landschaft freigeben. (Symbolbild)
Stauseen wie dieser im Val Nalps im Kanton Graubünden könnten vielerorts entstehen, wo schmelzende Gletscher Landschaft freigeben. (Symbolbild)
Source: Keystone/ALESSANDRO DELLA BELLA

Wo Gletscher wegschmelzen, könnten künftig Stauseen entstehen. Sie könnten die schwindende Speicherfunktion der Eismassen teils kompensieren und darüber hinaus Energie erzeugen. Forschende von ETH und WSL haben das weltweite Potenzial dafür berechnet.

Bis Ende des Jahrhunderts werden viele Gletscher Geschichte sein. Wenn das Eis zurückweicht, entstehen neue, unberührte Landschaften. Sollte man sie unter Schutz stellen? Oder könnten dort neue Stauseen entstehen, die dringend benötigte nicht-fossile Energie liefern?

Zu dieser Debatte trägt ein Forschungsteam der ETH Zürich und der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) nun Zahlen bei. Das Team um Daniel Farinotti berechnete das weltweite Speicher- und Wasserkraftpotenzial, das in Stauseen bei weggeschmolzenen Gletschern steckt.

Die Glaziologen verwendeten ein globales Gletscherinventar und fokussierten auf Gletschergebiete, die durch den Klimawandel bis Ende des Jahrhunderts mehr oder weniger eisfrei sein werden. Dort platzierten sie virtuell eine Staumauer am heutigen Ende jedes Gletschers. Dabei wählten sie die Standorte so, dass nicht nur der wirtschaftliche Ertrag am grössten war, sondern auch negative Auswirkungen auf die Landschaft möglichst gering ausfielen, wie die ETH und die WSL in einer gemeinsamen Mitteilung festhielten.

13 Prozent mehr Wasserkraft

Für die gewählten 185'000 Standorte berechneten die Forschenden ein maximales, theoretisches Wasserkraftpotenzial von 1350 Terawattstunden pro Jahr – etwa ein Drittel der heutigen weltweiten Wasserkraftproduktion. Nach einer zusätzlichen Eignungsprüfung der Standorte reduzierte sich dieser Wert auf eine konservativere Schätzung von 533 Terawattstunden pro Jahr: Dies bedeutet, dass sich die heutige Energiegewinnung aus Wasserkraft um 13 Prozent steigern liesse.

Die Stauseen würden allerdings nicht nur der Stromproduktion dienen, sondern auch die schwindende Funktion der Gletscher als Wasserspeicher zumindest teilweise kompensieren. Wenn ohne Gletscher die Flüsse in den Sommermonaten weniger Wasser führen, hat das in vielen Weltregionen einschneidende Konsequenzen für Wasserversorgung und Landwirtschaft. Stauseen könnten helfen, dies abzufedern.

Das Speicher- und Wasserkraftpotenzial sei in manchen Ländern grösser als in anderen, betonte Farinotti im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. In Tadschikistan beispielsweise könnten solche neuen Stauseen rund 80 Prozent des aktuellen Strombedarfs decken, in Chile 40 Prozent und in Pakistan 35 Prozent. Für die Schweiz berechnete das Team ein Potenzial von 10 Prozent.

Energie versus Schutz von Landschaft

«Wir wollen keinen Goldrausch generieren angesichts des neuen Wasserkraftpotenzials, das durch schmelzende Gletscher entsteht», so Farinotti. Die Studie solle nur Fakten liefern, keine Wertung, ob es gut oder schlecht wäre, eisfreie Gletschergebiete für Stauseen zu nutzen.

«Uns als Glaziologen wäre es lieber, dass die Gletscher noch lange existieren. Aber wir wollen mit dieser Studie einen anderen Blickwinkel auf die Gletscherschmelze werfen als Wasserknappheit und steigende Meeresspiegel.» Der Klimawandel lasse dort neue Landschaften entstehen, und damit ergebe sich die Frage, was damit geschehen solle.

Der Klimawandel steht derzeit im gesellschaftlichen Fokus. Um CO2-Emissionen zu senken und das Klima zu schützen, ist die Abkehr von fossilen Energieträgern unumgänglich. Wasserkraft könnte einen Beitrag leisten. «Ob Strom aus dieser erneuerbaren Quelle oder intakte Landschaften wichtiger sind, ist eine Diskussion, die die Gesellschaft führen muss», so Farinotti. Auf Bundesebene gilt die Energieversorgung als nationales Interesse und wird damit gleich gewichtet wie der Schutz der Landschaft.


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