Unvorstellbare Grausamkeiten Das vertuschte Massaker: 50 Jahre My Lai

von Martin Bialecki und Christoph Sator, dpa

17.3.2018

Wenn es nicht das schlimmste Massaker in der Geschichte der US-Armee war, so doch das wohl bekannteste. 50 Jahre ist das Geschehen im vietnamesischen Dorf My Lai nun her, aber die Aufarbeitung ist noch lange nicht vorbei.

Als das Grauen über sein Dorf kam, in der Gestalt von amerikanischen Soldaten, war Pham Thanh Cong ein kleiner Junge. Ein Schüler von elf Jahren, der zusammen mit seinen Eltern, drei Schwestern und einem Bruder in einem kleinen Nest in Vietnam wohnte, einem Ort namens My Lai, dessen Name schon ein paar Kilometer weiter niemand mehr kannte. Dann kam der 16. März 1968. An dessen Ende waren mehr als 500 Menschen tot. Alles Vietnamesen. Alles Zivilisten. Alle massakriert von Angehörigen der US Army.

Heute, ein halbes Jahrhundert später, ist My Lai ein Name, den man immer noch in der ganzen Welt kennt: Sinnbild für schlimmste Kriegsverbrechen, vielleicht sogar das bekannteste, das US-Soldaten je verübten - auch wenn es im Vietnam-Krieg nicht das einzige Massaker war. Von den Congs überlebten nur der kleine Pham und sein Vater, der während des Überfalls draussen auf dem Feld war. «Vergessen kann ich nicht», sagt Pham heute, mit 61. «Aber wir versuchen, den Amerikanern zu verzeihen und in die Zukunft zu schauen.»

Am Morgen jenes Tages war der Krieg in Vietnam schon viele Jahre alt. Seit Mitte der 1950er Jahre war das Land in zwei Hälften geteilt, in einen kommunistischen Norden und einen autoritär regierten Süden, den die USA in ihrer Angst vor einem Sieg des Kommunismus unterstützten, mit Bomben und mit Gift aus der Luft und auch mit Kampftruppen am Boden. 1968 standen mehr als 400 000 amerikanische Soldaten im Land.

200 von ihnen - die Company C, 1. Bataillon, 20. Infanterieregiment, 11. Brigade, 23. Infanteriedivision - werden an jenem Frühlingsmorgen mit Hubschraubern in der Nähe der Küste abgesetzt, ein paar hundert Meter landeinwärts. Offizieller Befehl: ein Kampfbataillon der Vietcong-Guerilla aufzuspüren. Das Kommando der «Company Charlie» führt ein Mann namens William Calley Jr., der 1964 noch wegen eines Gehördefekts von der Army abgelehnt wurde.

Grausamkeiten, die man sich kaum vorstellen kann

Bei ihrer Ankunft in My Lai stossen die Amerikaner allerdings auf keinen einzigen Bewaffneten. Vom Vietcong nirgends eine Spur. Was sie finden: alte Männer - die meisten jungen sind bei der Feldarbeit -, Frauen, Schwangere, Kinder und Babys. Und sie begehen Grausamkeiten, die man sich kaum vorstellen kann. Die Leute werden erschossen, erschlagen, erstochen. Skalpiert, in Stücke gehackt, mit Handgranaten in die Luft gesprengt.

Die Congs flüchten in einen Unterschlupf, den der Vater im Garten gegraben hat: ein Loch im Boden, mit Bambus abgestützt und dann wieder mit Erde bedeckt. Eine Weile lang hält ihr Versteck, aber dann werden auch sie entdeckt. Erst holen die Amerikaner die Familie heraus, dann schicken sie sie wieder zurück. Als alle drin sind, wirft einer von ihnen eine Handgranate hinein.

Pham, der ganz hinten sitzt, ist der einzige, der überlebt. Bis sein Vater vom Feld zurück kommt, wird es Nachmittag. So lang muss er es in dem Loch mit der toten Mutter und den toten Geschwistern aushalten. Oder mit dem, was von ihnen übrig geblieben ist. Der Vater gräbt dann ein notdürftiges Grab, nimmt den Sohn auf den Rücken und rennt davon. Ein paar Monate später stirbt auch er. Pham ist jetzt der Einzige.

Vier Stunden dauert es, bis der Blutrausch von My Lai vorbei ist. Am Ende, so steht es heute in den Büchern, sind 504 Menschen tot. Auf die US-Soldaten wird kein einziger Schuss abgegeben. Keiner. Bis heute ist nicht endgültig geklärt, was die Amerikaner so entfesselt hat. Als entnervt werden sie beschrieben, als anhaltend gepiesackt vom Vietcong, begierig auf Bestätigung und Ruhm.

Unmittelbar vor My Lai erging vom US-Oberkommando der Befehl, den Feind «unnachgiebig» unter Druck zu setzen. General William Westmooreland hob den Schutz von Zivilisten vorübergehend auf, Historiker interpretierten das als Einladung zu nackter Willkür. Auf die Frage, ob Frauen und Kinder nun tatsächlich Feinde seien, gibt es nur eine unklare Antwort. Damit, so heisst es heute, wurde dem Massaker Tür und Tor geöffnet.

Doch anfangs erfährt kaum jemand von dem Grauen. Es dauert eineinhalb Jahre, bis der Blutrausch an die Öffentlichkeit kommt, bis das Lügengebäude des Weissen Hauses einbricht. Entscheidend sind Briefe des Hubschrauber-Bordschützen Ronald Ridenhour an US-Politiker. Und die Arbeit des US-Journalisten Seymour Hersh, der damit weltberühmt wird.

US-Soldaten als Schlächter und Kriegsverbrecher

In der öffentlichen Wahrnehmung in den USA ist das ein Wendepunkt. Mit My Lai beginnt das bereits rissige Bild der eigenen Truppen als Kämpfer für das Gute endgültig zusammenzubrechen: amerikanische Soldaten als Schlächter, als Kriegsverbrecher, als entfesselte Soldateska. Aber erst mit dem Abzug aus Saigon (heute: Ho-Chi-Minh-Stadt) 1975 ist der Vietnam-Krieg für die USA vorbei.

Wegen des Massakers erhebt die amerikanische Justiz 24 Anklagen. Verurteilt wird jedoch nur ein nur einziger: Calley. Nach dreieinhalb Jahren Hausarrest kommt er frei. In Umfragen fanden damals vier von fünf Amerikanern schon den Schuldspruch falsch. Einige sagten, Calley habe nur seinen Job gemacht. Für andere war er ein Sündenbock für ein viel grösseres Versagen der Generäle und der US-Regierung.

Mehr als 40 Jahre wird es dauern, bis Calley sich entschuldigt. Im Jahr 2009 sagt er, es vergehe kein Tag, an dem er das Geschehen von My Lai nicht bereue. Pham Thanh Cong, der Vietnamese, meint dazu: «Die Soldaten haben Unmenschliches getan. Ich weiss nicht, warum.» Viele Jahre lang setzte er sich als Direktor des Museums von My Lai dafür ein, dass die Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten.

Inzwischen steht in dem Dorf auch ein steinernes Denkmal: eine Frau mit einem toten Kind im linken Arm, die rechte Faust trotzig nach oben gereckt. So stellt sich das vereinte Vietnam - einer der wenigen kommunistischen Einparteienstaaten, die es heute noch gibt - Erinnerung vor. Jetzt soll, als Zeichen der Versöhnung, noch ein «Friedenspark» gebaut werden.

Zur Mahnveranstaltung am Freitag werden auch einige US-Soldaten erwartet.

Vietnamkrieg: Die Tet-Offensive
Bilder des Tages
Zurück zur Startseite