Uralte «Flaschenpost» Forscher entschlüsselt Geheimnisse der Himmelsscheibe von Nebra

uri

21.9.2018

Die rund 4000 Jahre alte Himmelsscheibe von Nebra ist derzeit in Berlin zu sehen. 
Die rund 4000 Jahre alte Himmelsscheibe von Nebra ist derzeit in Berlin zu sehen. 
Keystone

Sie ist die wahrscheinlich älteste konkrete Sternenabbildung: Die rund 4000 Jahre alte Himmelsscheibe von Nebra gilt als Schlüssel zu einer verschollenen und rätselhaften Welt.

Die mysteriöse Himmelsscheibe von Nebra gehört zu den Prunkstücken einer grossen Schau archäologischer Funde in Berlin. Das vor 19 Jahren entdeckte Artefakt wird von Experten als «Flaschenpost» aus einem geheimnisvollen Reich betrachtet, das bis vor rund 3600 Jahren in Mitteleuropa existierte. «Ohne die Himmelsscheibe wären wir dieser verschollenen Kultur nie auf die Spur gekommen», erklärte Prof. Dr. Harald Meller der «Bild»-Zeitung.

Meller ist Direktor des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle, das die 2,3 Kilogramm schwere Scheibe für gewöhnlich zeigt. Gemeinsam mit dem Historiker und Journalisten Kai Michel versucht Meller die Geheimnisse rund um die Scheibe zu lüften. Die Ergebnisse präsentieren die Autoren im Buch «Die Himmelsscheibe von Nebra», das heute erscheint.

Bild des einfachen «Bauern-Idylls» ist falsch

Bei der frühen Bronzezeit in Mitteleuropa habe man lange an ein einfaches «Bauern-idyll» gedacht, meint Meller, doch diese einfache Sicht müsse revidiert werden. So zeigen die bei der Himmelsscheibe von Nebra verwendeten Materialien, dass bereits um 1600 v. Chr. in Mitteleuropa über Tausende Kilometer Handel betrieben wurde.

Das Gold der Applikationen stammt aus dem rund 1200 Kilometer Luftlinie von Nebra entfernten Fluss Carnon in Cornwall, Grossbritannien. Und auch das in der Bronze enthaltene Zinn dürfte aus Cornwall kommen, während das verwendete Kupfer höchstwahrscheinlich in österreichischen Erzminen gewonnen wurde.

Harald Meller (links), Direktor des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie in Sachsen-Anhalt, und Matthias Wemhoff, Direktor des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen haben im Martin-Gropius-Bau die Himmelsscheibe von Nebra aus einer Spezial-Transportkiste genommen.
Harald Meller (links), Direktor des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie in Sachsen-Anhalt, und Matthias Wemhoff, Direktor des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen haben im Martin-Gropius-Bau die Himmelsscheibe von Nebra aus einer Spezial-Transportkiste genommen.
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Für den Archäologen ist die 1999 von Raubgräbern entdeckte kostbare Bronzeplatte aber auch der Schlüssel zu den Geheimnissen eines mächtigen Reichs. Schliesslich wurde sie nicht allzu weit entfernt vom ehemals gewaltigen Grabhügel «Bornhöck» in Dieskau in Sachsen-Anhalt entdeckt. Diese Grabanlage hatte ursprünglich einen Durchmesser von 70 Metern, bei einer Höhe von 15 Metern. Es ist offensichtlich, dass hier einst eine oder womöglich mehrere sehr bedeutende Personen bestattet wurden.

Die Himmelsscheibe gehörte einem mächtigen König

Meller vergleicht den Grabhügel, der einst auffällig weiss gekalkt weithin sichtbar war, sogar mit einer Pyramide für einen ägyptischen Pharao. Auch die hier Bestatteten bekamen auserlesene Waffen und wertvolle Gegenstände aus Gold mit auf ihre Reise ins Jenseits. So wurden in einem später gefundenen Depot von Grabräubern aus dem 19. Jahrhundert in unmittelbarer Nähe des Grabhügels etwa goldene Armringe und eine goldene Axt entdeckt.

Der Archäologe vermutet deshalb, dass sich im Grabhügel die letzte Ruhestätte eines mächtigen und als gottgleich verehrten Königs befindet. Dieser festigte seinen Status womöglich gerade mithilfe der Himmelsscheibe, die ihm eine kalendarische Orientierung ermöglichte und so die Ansage der besten Zeit für die Aussaat und die Ernte. «Der Herrscher hatte das geheime astronomische Wissen und er liess es auf der Himmelsscheibe verewigen», gibt sich Meller gegenüber der «Welt» überzeugt.

Läutete Vulkanausbruch das Ende ein?

Ihr Besitzer, glaubt der Wissenschaftler, war der Herrscher eines bedeutenden Reiches der sogenannten «Aunjetitzer Kultur». Diese frühbronzezeitliche Gemeinschaft ist nach dem Dorf Únetice (deutsch: Aunjetitz) in Böhmen benannt, nachdem hier im späten 19. Jahrhundert erste Keramikgegenstände der Kultur in Gräbern entdeckt worden waren.

Sie zeichnete sich schon rund 2000 Jahre vor Christi Geburt durch eine funktionale gesellschaftliche Differenzierung und feine handwerkliche Fertigkeiten wie den Bronzeguss aus. Wie mit Mitteln der Luftbildarchäologie herausgefunden wurde, dürfte sich das Herrschaftsgebiet des Fürsten fast über den gesamten Harz - am Schnittpunkt der deutschen Bundesländer Niedersachsen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gelegen - erstreckt haben.

Untergangen ist das Reich womöglich nach dem Vulkanausbruch auf der griechischen Insel Santorin im Jahr 1600 v. Chr. Nach der sogenannten Minoischen Eruption kam es auch in Nordeuropa zu einer Verdunkelung des Himmels und damit einhergehend zu Missernten und Hungersnöten. Just zu dieser Zeit hörten jedenfalls auch die Aunjetitzer  auf ihre Himmelsscheibe zu lesen - und setzten sie kultisch bei.

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