Untote MachtMächtige Puppen – der merkwürdige Totenkult der Könige
Von David Eugster
21.5.2019
Gegen Ende des Mittelalters verändert sich das Begräbnisritual für Könige: Ihre Leichen warten in Abstellkammern auf die Beerdigung. Für kurz übernehmen tatsächlich Nachbildungen die Herrschaft – Einblick in ein sehr ernstes Puppenspiel.
Die Wut der Französischen Revolutionäre war im Jahr 1793 unermesslich geworden. Beim Sturm des königlichen Palastes in den Tuillerien metzelten sie Hunderte Schweizergardisten und etliche Adelige nieder. Die Zerstörung richtete sich gegen alles, was an die Monarchie erinnerte: Strassen und Plätze wurden umbenannt, Denkmäler eingeschmolzen, und im Oktober 1793 zog man aus, um auch noch die toten Könige aus den Gräbern zu holen.
Königsleichen ausgegraben
Eine Meute zog hinaus zur Abtei von St. Denis, einige Kilometer ausserhalb von Paris, wo die französischen Könige seit Jahrhunderten begraben wurden. Die Leichen von 50 Königen, 30 Königinnen und von über 60 Prinzen wurden in ein Massengrab geworfen. Einzelne waren gut erhalten – sie wurden zum Spott vor der Kirche ausgestellt, viele nahmen sogar Körperteile als Erinnerung mit.
Es ist den Grabschändern wohl kaum aufgefallen, doch für professionelle Grabräuber gaben viele Leichen doch eher wenig her: Sie trugen weder Kronen noch Zepter bei sich – seit dem 15. Jahrhundert wurden die französischen Könige ohne solche Ehrenzeichen beerdigt, dies nicht nur aus Spargründen.
Puppe nimmt Platz des Königs ein
Eine der Leichen ohne Purpur und Krone, die aus der Totenruhe gerissen worden war, war jene von Franz I. Der französische König hatte schon während des gesamten Frühlings des Jahres 1547 Schmerzen beim Reiten verspürt, ein Furunkel und Blasensteine plagten ihn – schliesslich starb er an einer Blutvergiftung. Kein sehr heroischer Tod für einen König, der nicht nur als «Franz von der Grossen Nase» bekannt war, sondern auch als «Krieger-König» gerühmt wurde.
Interessanter als sein Tod war ohnehin, was mit ihm danach geschah. Zunächst bahrte man seinen Körper zehn Tage auf. Doch dann wurde es merkwürdig: Der Leichnam wurde weggeschafft in eine kleine Kammer. Und dort, wo vorher der Tote lag, wurde eine lebensgrosse Statue aufgebahrt, geschaffen vom damaligen Hofmaler nach dem Abbild von Franz I. Sie hatte die Hände gefaltet, trug die Krone, die Franz I. zu Lebzeiten getragen hatte, und neben ihr lag das Herrscher-Zepter auf einem samtenen Kissen, während die nackte Leiche Franz I. in einem Abstellraum auf ihre Beerdigung wartete.
Die Attrappe glich dem König nicht nur genauestens, sondern wurde auch wie dieser bedient: Diener servierten ihr Essen, der Braten und der Wein wurden wie üblich vom Mundschenk vorgekostet, nach dem Mahl wischte man dem hölzernen König den Mund ab. Doch wozu spielte man dieses morbide Kasperletheater?
Der König kann nicht sterben
Aus der Zeit um den Tod von Franz I. stammt auch der Spruch «Der König ist tot, es lebe der König», der bei der Beerdigung von gekrönten Häuptern ausgerufen wird. Der Ausruf erinnert einerseits daran, dass die Krone des Toten an seinen Thronfolger übergeht.
Doch hat er noch eine zweite Bedeutung, die in der damaligen Vorstellung von der Monarchie verwurzelt ist: Der König kann nie sterben, denn es gibt ihn zweimal – einmal in sterblicher und einmal in unsterblicher Form. Der König wurde im Recht des ausgehenden Mittelalters als Mensch verstanden, der über seinem sterblichen Körper den ewigen, unsterblichen Körper der Königswürde trug.
So schrieb der französische Jurist Charles de Grasaille zehn Jahre vor dem Tod des langnasigen Königs: «Der König von Frankreich hat zwei Schutzengel, einen für seine private Person, eine andere für sein Wesen als königlicher Würdeträger.» Nach dem Tod trennten sich die beiden Körper des Königs wieder: Einer war die Leiche, der andere wurde durch seine Nachbildung dargestellt. Sie wurde für kurze Zeit, bis die Thronfolge gesichert war, wichtiger als der Verstorbene.
Weltweite Aufmerksamkeit erlangte der Mumienkult der Chinchorro nach der Entdeckung von 96 konservierten Leichen im Jahr 1983 bei Arica, der nördlichsten Stadt Chiles.
Bild: Zorka Ostojic Espinoza/wiki
In den folgenden Jahren konnten in der Atacama-Wüste insgesamt fast 300 Chinchorro-Mumien aus Begräbnisstätten geborgen werden.
Bild: Claudio Santana/AFP/Getty Images
Die aufwendig präparierten Kindermumien stellen die Forschung bis heute vor Rätsel.
Bild: Getty Images
Bis heute konnte nicht geklärt werden, warum die ansonsten recht primitiven Chinchorro-Nomaden einen so aufwendigen und hochentwickelten Totenkult in Form der Mumifizierung zelebrierten.
Bild: Getty Images
Dieser menschliche Schädel mit Funeralhelm und Grabbeigaben der Chinchorro-Kultur wird auf den Zeitraum zwischen 500 – 1000 n. Chr. datiert. Auch nachdem die Praxis der Mumifizierung 1500 v. Chr. zum Erliegen kam, wurde ein aufwendiger Totenkult beibehalten.
Bild: Pablo Trincado/wiki
Heute ist bekannt, dass im Norden Chiles das Trinkwasser aufgrund bestimmter natürlicher Bedingungen eine hohe Konzentration von Arsen im Trinkwasser aufweist. Möglicherweise hat eine dadurch bedingte erhöhte Kindersterblichkeit den Mumienkult angeschoben.
Bild: Heretiq/wiki
Chilenische Anthropologen zeigen eine Chinchorro-Mumie im Nationalmuseum der Geschichte in Santiago. Chile bemüht sich darum, dass archäologische Stätten der Mumien den Status eines Weltkulturerbes bekommen.
Bild: Martin Bernetti/AFP/Getty Images
Demokratie üben
Beim Trauermarsch hielten sich die Angehörigen des königlichen Beratungsstabs deswegen immer nahe bei der königlichen Puppe und mieden die Nähe des toten Königs im Sarg. Mit der vorübergehenden Verehrung des königlichen Abbilds zelebrierte der Hof die ewige Ehrwürdigkeit des Königtums, das auch dann noch existierte, wenn die fleischliche Hülle des Throninhabers das Zeitliche gesegnet hatte. Deswegen trugen die Richter bei Königs-Beerdigungen als einzige keine schwarzen Trauerkleider. Ihre roten Gerichts-Roben wiesen darauf hin, dass da nur ein Mann gestorben war, aber nicht der Staat und nicht das Gesetz, das ihn eingesetzt hatte.
Die Wichtigkeit, die man den Nachbildungen damals beimass, lässt sich an der Detailfreude erkennen, mit der sie aus Wachs, Leder und Holz gebaut wurden. Die Gesichter der Verstorbenen wurden nach allen Regeln der Kunst nachgebildet – bei Henry VIII. soll man sogar den Gesichtsausdruck nachempfunden haben, den der König nach seinem tödlichen Schlaganfall 1509 aufwies. In der Westminster Abbey, der Abtei, wo die Könige Englands beigesetzt wurden, existiert eine ganze Sammlung dieser Abbilder, eine Art Wachsfigurenkabinett von Hunderten Jahren der Monarchie.
Auch wenn diese Rituale heute wie reiner abergläubischer Irrsinn wirken, so wurde darin bereits eine Trennung eingeübt, die für unsere heutigen Demokratien wichtig ist: Die zwischen dem politischen Amt und dem einzelnen Menschen. Das Amt überlebt seinen Träger und seine Trägerin und geht auf andere über, die Würde bleibt nicht am toten Körper kleben. Heute ist es eine demokratische Tugend, die toten Körper der politischen Ahnen nicht übermässig zu verehren.
Untote Macht
Wenn Mächtige sterben, betreibt man immer einen grösseren Aufwand, um sie zu verabschieden. Für Lady Di wurden beispielsweise 10'000 Tonnen Blumen niedergelegt. Aber manche Mächtige gelten als so unentbehrlich, dass man sie gar nicht gehen lassen will. Sie werden mumifiziert, in Mausoleen verehrt und beschäftigen noch als Tote die Nachwelt. Um Anekdoten aus der Geschichte dieser untoten Macht dreht sich diese Reihe.
Um seine seelischen Kriegswunden zu heilen, hat der ukrainische Armeeveteran Sergy Bondar eine ungewöhnliche Methode für sich entdeckt: Er kreiert Puppen, die so realistisch sind, dass sie für echte Kleinkinder gehalten werden.
Bild: Dukas
Die Arbeit an den hyperrealistischen Puppen helfe ihm, seine Kriegserlebnisse zu verarbeiten, sagt der 34-jährige ehemalige Panzergrenadier der ukrainischen Armee. Sergey Bondar wurde bei Kämpfen in der Ostukraine verwundet.
Bild: Dukas
Bis zu 90 Stunden arbeitet Sergey Bondar an einer Puppe.
Bild: Dukas
In mühsamer Handarbeit bekommen die Puppen von Sergey Bondar eine Frisur aus echten Menschenhaaren.
Bild: Dukas
Bis zu 320 Franken kosten die Puppen von Sergey Bondar.
Bild: Dukas
Bondar baut die Puppen exakt nach den Wünschen seiner Kunden.
Bild: Dukas
Wer würde glauben, dass diese Füsse nicht einem echten Baby gehören?
Bild: Dukas
Bondars Puppen sehen so echt aus, dass sie auch ziemlich unheimlich wirken können.
Bild: Dukas
Sergey Bondar gibt an, dass seine Puppen sogar wie echte Babys riechen würden.
Bild: Dukas
Seine fertigen Kreationen liefert Sergey Bondar persönlich aus. Wenn er mit seinen etwa drei Kilogramm schweren Puppen unterwegs ist, werden sie von Passanten häufig für seine Kinder gehalten.
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