Ungewöhnlicher Fall Mordakte Winckelmann: Wie der grosse Gelehrte in Triest starb

Sebastian Fischer, dpa

7.6.2018

Geburt in Stendal, Tod in Triest: Sein rasanter Aufstieg führt den Archäologen Winckelmann in die Spitze der Geisteswelt. Vor 250 Jahren stirbt er auf blutige Weise. Trotz Gerichtsprozess bleiben Fragen.

Sein Leben endet vor genau 250 Jahren so, wie heute ein klassischer Fernsehkrimi beginnt: Von Messerstichen gezeichnet liegt Johann Joachim Winckelmann in einem Hotelzimmer, über ihm kniet der Mörder mit der Tatwaffe. Wenig später ist der wohl wichtigste deutsche Gelehrte seiner Zeit tot, ermordet am 8. Juni 1768. Ein Blick in die Prozessakten eines ungewöhnlichen Falls:

DAS OPFER: Im Hotel hat sich der 50-Jährige inkognito als «Signor Giovanni» angemeldet. Erst als sein Pass gefunden wird, ist klar: Mit «Giovanni Winckelmann, prefetto delle antichità di Roma» liegt der Oberaufseher der antiken Schätze des Vatikans im Sterben - eines der bedeutendsten Ämter der damaligen Kunst- und Archäologiewelt. Der Deutsche wachte über immense Reichtümer in Rom und über die Grabungen in Herculaneum und Pompeji. Der Posten war der Karrierehöhepunkt des in bescheidenen Verhältnissen geborenen Stendaler Schumachersohns.

DER TATORT: In Triest (heute Italien, damals Österreich) übernachtet der Altertumsforscher für mehrere Tage im Hotel «Locanda Grande», das Nachbarzimmer bewohnt sein Mörder. Nach einem Besuch in Wien bei der Habsburger Kaiserin Maria Theresia ist Winckelmann auf dem Rückweg nach Rom. Noch heute ist das «Grand Hotel Duchi d'Aosta» das erste Haus an der zentralen Piazza Unità nahe den Schiffskais.

DAS SZENARIO: Ein Mittwoch, 10 Uhr morgens. Winckelmann vertreibt sich das Warten auf seine Abreise nach Ancona mit Schreibtischarbeit. Von hinten legt ihm plötzlich sein Mörder eine Schlinge um den Hals. Es kommt zu einem Handgemenge, der Täter greift sein Messer. Fünf Stiche. Wegen des Lärms überrascht ein Kammerdiener die beiden, der Täter flieht. Gegen 16 Uhr erliegt Winckelmann seinen Verletzungen.

DER TÄTER: Nach wenigen Tagen wird Francesco Arcangeli gefasst, ein ehemaliger Koch und vorbestrafter Dieb. Der Fall wandert vor das Triester Kriminalgericht. Nach Aktenlage hat Winckelmann während seines mehrtägigen Aufenthalts mit ihm Bekanntschaft geschlossen. Wie es allerdings dazu kam, dass sich ein hochgebildeter Gelehrter mit einem zwielichtigen Gauner einlässt, beantworten die Richter nicht.

DAS MOTIV: Gier. So sieht es das Gericht. Arcangeli soll ein Auge auf wertvolle Münzen geworfen haben, die der Archäologe von der Kaiserin erhalten hatte. Doch liess er sie nach der Tat gar nicht mitgehen. Arcangeli wird wegen Raubmords verurteilt und öffentlich gerädert. Allerdings gibt es neben der offiziellen Version andere Theorien.

ALTERNATIVE I - DIE EROTIK: Winckelmann, der antike Statuen mit Zügen von Jünglingen als das höchste Ideal in der Kunst erachtet, lässt wegen seiner homosexuellen Neigungen die Fantasie ins Kraut schiessen. Hatte er etwa ein Verhältnis mit Arcangeli? Der soll aber laut Akten weniger ideal gewesen sein: alt, dick und pockennarbig.

ALTERNATIVE II - DAS KOMPLOTT: War die Tat politisch motiviert? Eine These ist, dass Rivalen im Vatikan den Emporkömmling ausschalten und den Mord als Raub tarnen wollten. Eine andere: Winckelmann sei als eine Art Agent mit einer Geheimnote vom Wiener Hof in Richtung Vatikan unterwegs gewesen. Doch ist das alles nicht zu erhärten.

ALTERNATIVE III - DER NATÜRLICHE TOD: Winckelmann sei schon in Wien an einer Krankheit gestorben. Zuvor hatte er nämlich eine Reise nach Deutschland wegen Schwermuts und Fiebers abgebrochen. Ein Unbekannter habe sich seines Passes und der Münzen bemächtigt. Als dieser das Diebesgut in Triest mit seinem Freund Arcangeli habe teilen wollen, hätten sie sich darüber zerstritten - ein Mord unter Gaunern. Mit dieser Theorie sollte Winckelmanns Hotel-Inkognito erklärt werden.

DAS FAZIT: Beweise gibt es für keine dieser Spekulationen. Doch halten sie sich wohl wacker wegen der Faszination aus dem Widerspruch von klassizistischem Ideal und blutigem Tod. Wie dem auch sei: Die Geisteswelt ist seinerzeit schockiert. Ein junger Student namens Johann Wolfgang von Goethe schreibt ins Tagebuch: «Sein frühzeitiger Tod schärfte die Aufmerksamkeit auf den Wert seines Lebens».

DAS NACHLEBEN: Seine Schriften zum Altertum prägen den Blick auf die Antike bis heute. Winckelmanns Satz, griechischen Statuen wohne eine «edle Einfalt und stille Grösse» inne, macht sich die Weimarer Klassik um Goethe, Schiller und Co. zu eigen. Winckelmann ist der erste, der Epochen in Vorstufen, Höhepunkt und Verfall einteilt. Damit hat er Archäologie und Kunstgeschichte beeinflusst wie kaum ein anderer.

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