Dokumentarfilm «Eingeimpft» Dokumentarfilm «Eingeimpft»: Mythen statt Evidenz?

dpa / tsch

13.9.2018

Erwarten Kinder, dass es sehr weh tut, dann empfinden sie auch einen stärkeren Schmerz. Zu diesem Ergebnis kommen Forscher der University of California in Riverside. 
Erwarten Kinder, dass es sehr weh tut, dann empfinden sie auch einen stärkeren Schmerz. Zu diesem Ergebnis kommen Forscher der University of California in Riverside. 
Foto: Karl-Josef Hildenbrand

Der Dokumentarfilm «Eingeimpft», der bald in Schweizer Kinos läuft, erntet viel Kritik. Auch ein namhafter Schweizer Experte ist unglücklich über die Argumentation des Films.

Der Dokumentarfilm «Eingeimpft» des Berliner Regisseurs David Sieveking ist autobiografisch angelegt: Er zeigt, wie der Filmemacher bei der Geburt seiner ersten Tochter vor der Frage steht, wie sie geimpft werden soll. Doch der – vom Regisseur auch als Beziehungskomödie beschriebene – Film ruft viele Kritiker auf den Plan: Sieveking habe nicht ausreichend recherchiert und fragwürdigen Experten ein Podium geboten, so die Vorwürfe.

Während der Regisseur behauptet, der Film schaffe etwa durch Verweise auf mögliche positive Nebeneffekte mancher Impfstoffe «Begeisterung fürs Impfen», sieht dies Beda Stadler, ehemaliger Direktor des Berner Instituts für Immunologie, anders: «Der Film holt alle alten Vorurteile raus. Zum Teil widerlegt er sie sogar fachlich und sachlich richtig. Aber weil alles infrage gestellt wird, tauchen dazwischen diese Sätze auf, die alles verunsichern», sagt er. «Alles ist so vage gehalten. Zurück bleibt im Hirn eine totale Verunsicherung. Das ist bei der heutigen Faktenlage nicht in Ordnung.»

So sage der Autor des Films zwar, es sei widerlegt, dass Impfen zu Autismus führe. Das relativiere dann aber seine Frau wieder und behaupte, dass das Risiko vielleicht trotzdem noch da sei. Die Partnerin des Filmemachers hat Angst vor Impfungen und will, dass ihre Tochter «metallfrei» bleibt. Damit bezieht sie sich auf Aluminium-basierte Wirkverstärker, die in vielen heutigen Impfstoffen enthalten sind.

Umstrittene Forscher

Die äusserst geringen Mengen des Metalls sind nach Einschätzung fast aller Wissenschaftler weitestgehend unproblematisch – doch Sieveking macht sich auf die Suche und findet Forscher, die das anders sehen. Er trifft sie auf einem Symposium in Leipzig, das von der impfkritischen Organisation «Children's Medical Safety Research Institute» (CMSRI) finanziert wurde.

Zusammen mit dem umstrittenen britischen Aluminium-Forscher Chris Exley leitete CMSRI-Gründerin Clair Dwoskin das Symposium. Exley erklärte, die Wirkverstärker könnten womöglich «toxische Ereignisse» im Körper auslösen.  Anschliessend lässt Sieveking Lucija Tomljenovic von der kanadischen University of British Columbia zu Wort kommen, die ebenfalls Geld vom CMSRI erhielt. «Wir kennen die tatsächlichen Risiken nicht, da objektive Forschung niemals gemacht wurde», sagt sie.

«Ich denke, so eine allgemeine Aussage kann nicht richtig sein», erklärt der Deutsche Timo Lange vom Verein «Lobbycontrol». Unabhängige Forschung sei wichtig – «und zwar auch unabhängig von solchen Organisationen, die sich verdächtigt gemacht haben, eine Agenda zu fahren». Lange fordert, den Interessenshintergrund von Forschern zu thematisieren.

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Die Psychologin Cornelia Betsch von der Uni Erfurt stimmt zu. «Man wird dazu verleitet, Interessenskonflikte eben nur da zu sehen, wo es der Geschichte dienlich ist – und das untergräbt das Vertrauen in die Gesundheitsorganisationen», sagt sie. «Es entsteht das Gefühl, es gäbe zwei Meinungen, die gleich verteilt wären. Beim Impfen geht es aber nicht um Meinungen – es geht vor allem um Evidenz.»

In einer Mitteilung erklärte der Regisseur angesichts der Kritik, er würde «ausschliesslich anerkannte Wissenschaftler zu Wort kommen lassen». Er habe lange nicht gewusst, wer Dwoskin und ihr CMSRI seien, räumt er auf Nachfrage ein. Seiner Ansicht nach liege aber kein Interessenskonflikt vor, den er hätte thematisieren müssen. Die Statements würden nicht mal eine Minute des Films ausmachen – da sei es nicht unbedingt angemessen, genau alles aufzudröseln.

«Ich halte das Symposium überhaupt nicht für eine tendenziöse oder irgendwie obskure Veranstaltung, nach allem was ich weiss», sagt er. «Ich erhebe keinen Anspruch auf Wissenshoheit und auch mir kann man einen Bären aufbinden» – doch habe ihm bislang niemand eine Falschbehauptung nachweisen können.

Dem Zuschauer überlassen

Obwohl Sieveking sagt, das Thema Impfen sei so komplex, dass man es als Einzelperson nicht durchdringen könne, überlässt er es oft dem Zuschauer, Situationen einzuschätzen. So auch bei einem einseitigen Vortrag eines anthroposophischen Arztes. «Wenn er sagt, dass Impfen die stärkste Manipulation ist, die es gibt, spricht es für sich – dass er selber ziemlich manipulativ ist», sagt Sieveking. Doch habe er «auch einige wichtige und richtige Fakten» erfahren.

Im Film sagt er, der Vortrag klinge zwar etwas ideologisch, aber immerhin handele es sich um einen promovierten Mediziner. «Wenn ich sagen würde: Das ist ein Freak, das fand ich alles Quatsch, was er gesagt hat, dann würde man fragen, wieso er im Film vorkommt.»

Sieveking verstrickt sich mehrfach in Widersprüche. «Neben akuten allergischen Reaktionen steht ein breites Spektrum chronischer Erkrankungen im Verdacht, durch Impfungen ausgelöst zu werden – von Asthma und Diabetes bis hin zu Multipler Sklerose», sagt er im Film – und zeigt eine Animation eines Jungen im Rollstuhl mit Atemmaske. Um die Gefühlslage eines Elternteils in dieser Situation darzustellen, finde er das «total legitim», sagt er: Schliesslich sei es nur eine Illustration, und sein Film sei keine Informationsbroschüre.

Gleichzeitig sagt er, der Verdacht eines Zusammenhangs mit Multipler Sklerose sei seiner Einschätzung nach ausgeräumt. Im Film heisst es dagegen, eine Verbindung sei wissenschaftlich «noch nicht» nachgewiesen und werde von Behörden bezweifelt.

«Kindisch und überholt»

«Es ist nicht mehr klar, was Fakten sind – und ob der Filmemacher effektiv zu seinen Fakten steht», kritisiert der emeritierte Biologe Stadler. Die Stelle etwa, in der der Regisseur mit einem Anthroposophen über die Impfung diskutiert, sei laut Stadler, «als würden zwei Blinde darüber diskutieren, wie die Farbenpracht auf der Welt aussehen könnte». Das sei «so kindisch und überholt, dass es einfach peinlich ist», sagt Stadler.

Aber auch gefährlich: «Zu diesem Thema dermassen starke Verunsicherungen zu streuen, heisst, dass ein gewisser Prozentsatz von Eltern dann doch nicht impfen. Und diese Eltern sind nicht nur für ihre Kinder eine Gefahr, sondern auch für die Gesellschaft rundherum.» Denn, so Stadler, «man impft sich nicht, um sich zu schützen. Sondern, damit man andere Menschen nicht ansteckt. Diese Art von Solidarität fehlt dem Film komplett.»

Für den Wissenschaftler ist dies auch ein Zeitphänomen: «Es geht viel um Bauchgefühl. Das ist die postfaktische Zeit. Das sind alles Ersatzreligionen.» Den Film kann man sich Beda Stadler zufolge also sparen: «Ich empfehle eher, einen alten Western anzusehen, bei dem kann man sich wenigstens noch amüsieren. Es ist verlorene Zeit, sich solche Pseudowissenschaft reinzuziehen. Man ist nach dem Film keinen Deut gescheiter.»

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