Polizistin überfahrenAngeklagter hatte «keine Zeit, um gut zu überlegen»
fn, sda
2.2.2022 - 10:16
Der 22-Jährige, der 2019 in Winterthur eine Polizistin mit einem gestohlenen Auto überfahren hat, habe diese nicht rechtzeitig gesehen – das erklärte seine Anwältin im Prozess.
fn, sda
02.02.2022, 10:16
02.02.2022, 10:30
SDA/gbi
Diebstahl, Gewalt, Drohung gegen Beamte und weitere Delikte: Dafür soll ein junger Schweizer eine vierjährige Haftstrafe auferlegt erhalten – das forderte seine Anwältin am Mittwoch vor dem Bezirksgericht Winterthur.
Die Haftstrafe soll er jedoch nicht antreten. Stattdessen solle sie zugunsten einer Massnahme für junge Erwachsene aufgeschoben werden. Dort könnte der 22-Jährige eine Elektrikerlehre absolvieren.
Der Mann hatte im Herbst 2019 mit einem Aufsehen erregenden Autodiebstahl Schlagzeilen gemacht. Als die Polizei ihn in Winterthur anhalten wollte, überfuhr er eine Beamtin, die dabei lebensbedrohlich verletzt wurde.
Die Annahme der Staatsanwaltschaft, dass der junge Mann die Polizistin gesehen habe, bevor er sie anfuhr, sei falsch, betonte die Anwältin in ihrem Plädoyer. Ihr Mandant sei in Angst und Panik geraten, als die Polizisten mit den Waffen auf ihn gezielt hätten.
Er habe nur wegkommen wollen: «Möglichst schnell weg, damit er nicht erschossen wird.» Der Angeklagte habe die Polizistin erst gesehen, als es zu spät gewesen sei. Er habe «keine Zeit gehabt, um gut zu überlegen», sagte der psychisch Kranke selber in einer Befragung.
Man dürfe nicht vergessen, dass die Schizophrenie ihres Mandanten damals nicht medikamentös behandelt worden sei, sagte die Anwältin weiter. Seine Handlungen könnten deshalb nicht mit den Handlungen einer besonnenen und gesunden Person verglichen werden.
Schizophrenie möglicherweise wegen Cannabis
Die Medikamente habe er damals immer wieder selber abgesetzt. Die Einsicht, dass er krank sei, habe gefehlt. Ausgelöst wurde die Schizophrenie möglicherweise durch massiven Cannabis-Konsum. Gemäss Gutachten hat sich die Krankheit aber irgendwann verselbständigt, unabhängig vom Ausmass des Drogenkonsums.
Die Staatsanwältin hält eine Massnahme für junge Erwachsene, wo die Insassen Berufslehren absolvieren können, für falsch. Am Dienstag, dem ersten Prozesstag, hatte sie unter anderem wegen versuchten Mordes eine Freiheitsstrafe von zwölf Jahren gefordert.
Statt ins Gefängnis solle der Beschuldigte aber in eine stationäre Massnahme nach Artikel 59 des Strafgesetzbuches, umgangssprachlich auch «kleine Verwahrung» genannt. Dort könne seine Schizophrenie therapiert werden. Absolvieren könnte er die «kleine Verwahrung» etwa in der Klinik Rheinau, in der er bereits heute behandelt wird.
Die Verhandlung dürfte heute Mittwoch zu Ende gehen. Das Urteil wird am 8. März eröffnet.
Der Gutachter sagt dem jungen Schweizer keine gute Zukunft voraus. Die Behandlung funktioniere leider nicht so, wie sie im besten Fall möglich sei, sagte er am ersten Prozesstag. Eine IV-Berentung sei mittel- und langfristig realistisch. So frustrierend das klinge.
Polizistin wurde meterweit durch die Luft geschleudert
Am 13. Oktober 2019 brach der Beschuldigte bei Winterthur in eine Garage ein und stahl einen BMW 750, in dem er dann auch schlief. Am Tag darauf raste er mit gestohlenen Nummernschildern und mit bis zu 260 Stundenkilometer bis fast nach Chur und fuhr dann nach Winterthur zurück.
Dort erwartete ihn die Polizei bereits mit einer Strassensperre. Als er merkte, dass mehrere Polizistinnen und Polizisten ihre Waffen auf ihn richteten, lenkte er den Wagen aufs Trottoir, beschleunigte auf 40 oder 50 Stundenkilometer und fuhr mit voller Wucht in die Polizistin.
Die damals 39-Jährige wurde mehrere Meter durch die Luft geschleudert, prallte auf dem Asphalt auf und wurde lebensgefährlich verletzt. Unter anderem erlitt sie einen Lungenkollaps und eine Verletzung der Halsschlagader mit Embolien. Eine zweite Polizistin konnte sich mit einem Sprung in die Wiese im letzten Moment retten.