Zehn legendäre WM-Momente Goalie-Dribbling, Spuck-Attacken und ein Spickzettel

Von Luca Betschart

16.11.2022

Eine unvergessene Szene: Roger Milla (links) luchst Kolumbien-Goalie Higuita den Ball ab und schiesst Kamerun in den WM-Viertelfinal von 1990.
Eine unvergessene Szene: Roger Milla (links) luchst Kolumbien-Goalie Higuita den Ball ab und schiesst Kamerun in den WM-Viertelfinal von 1990.
Bild: Keystone

Zum 22. Mal duellieren sich die besten Nationalteams der Welt ab dem kommenden Sonntag um den WM-Titel. Wir blicken auf denkwürdige Momente zurück.

Von Luca Betschart

16.11.2022

Ein folgenschweres Goalie-Dribbling

Der kolumbianische Torhüter René Higuita erobert die Fussball-Welt im September 1995 mit einer verblüffenden Parade. In der Partie im Wembley gegen die englische Nationalmannschaft entschliesst sich Higuita dazu, einen Schuss von Englands Jamie Redknapp nicht wie üblich mit den Händen zu halten. Stattdessen lässt er sich nach vorne fallen, um den Ball mit beiden Hacken auf der Torlinie zu parieren. Das Kunststück geht als «Skorpion-Kick» in die Geschichte ein.

Ohnehin erfindet der in Medellin geborene Higuita das Torwartspiel neu – mit einer enorm offensiven Interpretation. Oft fängt er als Libero die Bälle schon vor seinem Strafraum ab und geht immer wieder ins Dribbling. Zudem versucht er sich als Freistoss- und Elfmeterschütze und erzielt in seiner Länderspiel-Karriere drei Tore. Allerdings muss auch Higuita erfahren, wie schmal der Grad zwischen Genie und Wahnsinn sein kann.

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An der WM 1990 in Italien will der kolumbianische Schlussmann in der Verlängerung des Achtelfinals gegen Kamerun einen Gegenspieler ausdribbeln – und das rund 25 Meter vor dem eigenen, verwaisten Tor. Das geht gründlich in die Hosen.

Higuita verliert den Ball, Kamerun erhöht auf 2:0 und zieht wenig später in den Viertelfinal ein. «El Loco», wie Higuita in seiner Heimat für seine waghalsigen Aktionen betitelt wird, ist der grosse Buhmann. «Es war ein Fehler, so gross wie ein Haus», kommentiert der heute 56-Jährige damals die Szene.

Aus der Pension

Von Higuitas Patzer profitiert Kameruns Oldie Roger Milla, der ursprünglich gar nicht erst zum WM-Kader 1990 des damaligen russischen Trainers Valeri Nepomniatchi gehört. Präsident Paul Biya aber besteht darauf, den im Sommer 1989 aus dem Vereinsfussball zurückgetretenen Milla mitzunehmen. Die umstrittene Entscheidung erweist sich als goldrichtig.

Milla luchst nicht nur Higuita den Ball ab und entscheidet den Achtelfinal mit seinem Doppelpack, er steuert auf dem Weg in den Viertelfinal als Joker vier Tore bei. Sein Makossa-Tanz, mit dem er seine Treffer gebührend feiert, geht um die Welt.

Vier Jahre später ist Milla als 42-Jähriger gar auch in den USA noch mit von der Partie. Kamerun scheitert zwar in der Vorrunde, doch Milla markiert gegen Russland ein Tor und ist so der bis heute älteste Torschütze einer WM-Endrunde. Das ist bei Kameruns 1:6-Pleite aber nur eine Randnotiz.

Die Salenko-Show

Denn Oleg Salenko stiehlt Milla bei brütender Hitze in den USA die Show. Der Russe markiert zwischen der 15. und 44. Minute einen lupenreinen Hattrick, nach dem Seitenwechsel erledigt er die Kameruner mit zwei Toren innert drei Minuten im Alleingang. Bis heute ist Salenko der einzige Spieler, der in einem WM-Spiel fünf Tore bejubeln kann. Richtig in Feierlaune kommt er aber nicht. Russland scheidet ebenso wie Kamerun aus – und sowohl Salenko als auch Milla laufen in der Folge nie mehr für ihr Nationalteam auf.

Zidanes Abgang

Einen weit unrühmlicheren Abgang erlebt Zinédine Zidane. Zwar darf er in seinem letzten Länderspiel im WM-Final 2006 noch einmal auf der ganz grossen Bühne auflaufen, das Happy End bleibt ihm aber verwehrt. Der Franzose lässt sich von Italiens Marco Materazzi provozieren und streckt ihn in der Verlängerung mit einem Kopfstoss nieder. Zidane fliegt vom Platz, seine Teamkollegen verlieren wenig später das Penaltyschiessen.

Erst kürzlich sagt Zidane: «Ich bin nicht stolz, aber das ist nun mal Teil meines Weges. In diesem Moment war ich zerbrechlich. Und dann machst du Sachen, die du nicht tun solltest.» Die anschliessende Kritik sei hart gewesen. «Doch das ist meine Karriere, die Geschichte meines Lebens. Genauso meine zwei Tore im WM-Final 1998», macht der heute 50-Jährige klar.

Rijkaards Spuckattacke auf Völler

«Ich hatte persönliche Probleme und ging besonders gereizt ins Spiel», gesteht Hollands Frank Rijkaard nur wenige Stunden nach dem skandalösen Vorfall an der WM 1990 und nimmt diesen auf seine Kappe. Rijkaard foult Gegenspieler Völler im Achtelfinal zwischen Holland und Deutschland, sieht dafür die Gelbe Karte und verliert im Anschluss komplett die Contenance.

Er spuckt Völler in die Haare und zieht ihn am Ohr. Nachdem die beiden Streithähne die Rote Karte sehen, startet Rijkaard auf dem Weg in die Kabine gar noch eine zweite Spuckattacke, im Kabinengang des San-Siro-Stadions sollen dann gar die Fäuste fliegen.

Warum auch Völler beim 2:1-Sieg der Deutschen frühzeitig vom Platz fliegt, versteht übrigens selbst Rijkaard nicht. Die Sperre für den Viertelfinal bleibt dennoch bestehen. Immerhin kann sich der Deutsche wenig später mit dem WM-Titel trösten. Erst Jahre später kommt es übrigens im Rahmen eines Wohltätigkeitsessens einer holländischen Molkerei zur inszenierten Versöhnung zwischen Rijkaard und Völler.

Goalie und Beisser Suarez

Luis Suarez verantwortet gleich zwei denkwürdige WM-Momente. 2010 wird er mit seiner Rettungsaktion auf der Linie zu Uruguays Nationalheld. Gegen Ghana pariert Suarez in der 120. Minute der Verlängerung im Stil eines Torhüters auf der Linie und kassiert dafür die Rote Karte. Doch seine reflexartige Parade zahlt sich aus. Asamoah Gyan verschiesst den fälligen Elfer, wenig später entscheidet Uruguay den Viertelfinal im Penaltyschiessen für sich.

In Katar werden die beiden Nationen wieder aufeinandertreffen. Und in Ghana hat man das bittere Aus nicht vergessen. «Die Menschen da draussen wissen, was passiert ist. Die ganze Welt weiss, was passiert ist», sagt Unglücksrabe Gyan jüngst bei BBC und macht klar: «Die Ghanaer wollen Rache.»

Zurück zu Suarez. Der leistet sich vier Jahre später bei der WM in Brasilien einen Aussetzer, der wohl auch in seinem Heimatland nicht bejubelt wird. Im Spiel gegen Italien beisst der Stürmer Gegenspieler Giorgio Chiellini in die Schulter, kommt allerdings ohne Konsequenzen des Schiedsrichters davon. Vorerst.

Die FIFA allerdings kennt in der Folge kein Pardon und sperrt den Uruguayer nicht nur für den folgenden WM-Achtelfinal, sondern gleich für neun Spiele und vier Monate.

Die Hand Gottes

Am 22. Juni 1986 schreibt Diego Armando Maradona in Mexiko Fussball-Geschichte. Im Viertelfinal gegen England markiert der Argentinier nach 50 Minuten innert 240 Sekunden einen Doppelpack und bringt den Gauchos die Führung, die man bis zum Schlusspfiff erfolgreich verteidigt. Wenige Tage später wird Argentinien dank des Finalsiegs über Deutschland Weltmeister. Die Sache hat aber einen Haken.

Beim seinem ersten Treffer bezwingt Maradona Englands herausstürmenden Goalie Peter Shilton, in dem er den Ball mit der Hand ablenkt. Die anschliessenden wilden Proteste der Engländer sind vergeblich, das Tor zählt. Und Matchwinner Maradona sagt nach dem Schlusspfiff auf die Szene angesprochen: «Das war ein bisschen Maradonas Kopf und ein bisschen die Hand Gottes.» Erst 19 Jahre später gibt er zu, mit seiner linken Hand am Ball gewesen zu sein.

Nichts zu bemängeln gibt es derweil am zweiten Treffer des Ausnahmekönners nur vier Zeigerumdrehungen später. Maradona lässt die Gegenspieler reihenweise aussteigen und markiert nach dem Solo über 60 Meter das 2:0. Der unvergessene Treffer wird 2002 zum WM-Tor des Jahrhunderts erkoren.

Lehmanns Spickzettel

30. Juni 2006: Im dramatischen WM-Viertelfinal zwischen Gastgeber Deutschland und Argentinien gibt es nach 120 Minuten keinen Sieger. Das Penaltyschiessen muss im ausverkauften Berliner Olympiastadion entscheiden. Bereits als sich die Teams auf das nervenaufreibende Ende einschwören, kommt es zu einem Gänsehaut-Moment: Der von Klinsmann zur Nummer 2 degradierte Oliver Kahn springt über seinen Schatten und wünscht Konkurrent Jens Lehmann für das anstehende Penaltyschiessen viel Glück.

Unvergessen: Oliver Kahn (links) wünscht Rivale Jens Lehmann vor dem Penaltyschiessen viel Glück.
Unvergessen: Oliver Kahn (links) wünscht Rivale Jens Lehmann vor dem Penaltyschiessen viel Glück.
Bild: Getty

Kurz darauf überreicht Torwarttrainer Köpke seinem Schützling einen vorbereiteten Spickzettel, auf dem geschrieben steht, wohin welcher Gegenspieler seine Elfmeter normalerweise schiesst. Bereits beim zweiten Schützen, Roberto Ayala, geht der deutsche Plan voll auf: Wie auf dem Zettel geschrieben steht, schiesst der Gaucho in die rechte Ecke – und Lehmann ist zur Stelle.

Als vierter Argentinier läuft Esteban Cambiasso an, sein Name steht aber nicht auf dem Spickzettel. Dennoch starrt Lehmann lange auf sein Blatt Papier und hat mit dem Psychospiel Erfolg. Lehmann hält erneut und Deutschland steht im Halbfinal. Erst später verrät Lehmann: «Leider waren die Notizen nicht wirklich hilfreich. Die Ecken sind aus meiner Sicht notiert, und die Schützen haben dann entgegengesetzt geschossen.» Das interessiert schlussendlich keinen mehr.

Die Wembley-Tor

Mit einem Sieg über Deutschland krönt sich England Ende Juli 1966 im Wembley-Stadion vor heimischem Publikum zum Weltmeister. Geoff Hurst lässt die «Three Lions» in der Verlängerung nach 101 Minuten jubeln, nachdem er den Ball an die Unterkante der Latte schiesst. Der Ball springt via Boden wieder zurück ins Spielfeld, der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst entscheidet nach Rücksprache mit dem Linienrichter auf Tor. Doch war der Ball wirklich hinter der Torlinie?

Diese Frage beschäftigt die Fussball-Welt über Jahrzehnte. Erst im Jahr 2006 belegt eine Studie zweifelsfrei, dass der Ball die Torlinie nie komplett überquert. Das Wembley-Tor ist eigentlich gar keines.

Das umgekehrte Wembley-Tor

Während die Engländer 1966 noch von der Fehlentscheidung profitieren, folgt 2010 in Südafrika so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit. Im Achtelfinal gegen Deutschland markiert Frank Lampard via Lattenunterkante den Ausgleich. Doch obwohl der Ball offensichtlich hinter der Linie wieder aufprallt, wird der Treffer für England nicht gegeben. Die Szene ist in Fussball-Kreisen als «umgekehrtes Wembley-Tor» bekannt. Denn 1966 war der Ball nicht drin, aber es war ein Tor. Und 2010 war der Ball drin, aber es war kein Tor. «Das ist die Ironie der Geschichte», fasst Franz Beckenbauer treffend zusammen.