In München spielt Lucien Favre am Samstag im Bundesliga-Gipfel nicht um seine Zukunft, aber zumindest um einen weiteren grossen Sieg seiner Dortmunder Laufbahn. Hinter ihm liegen ungemütliche Wochen.
«Es gibt bestimmte Zeitungen, die ich seit langer Zeit nicht mehr lese. Es findet überall und sehr schnell eine grosse Übertreibung statt.» Favre gewährte einem Reporter des deutschen Portals «SPOX» Einblick in seine Gefühlswelt der letzten Monate. Was der Waadtländer meinte, setzte die «Bild»-Zeitung am Tag nach dem 3:2-Coup in der Champions League gegen Inter Mailand bilderbuchmässig um: «Favre on Fire! So emotional wie nie!» Drei Siege in Folge in der Meisterschaft, im Cup und auf europäischer Ebene genügten, um Favre wieder als Winner zu verkaufen.
In Dortmund brauchen sie keine Spiele, um Aufregung zu entfachen. Der Ballspielverein Borussia ist eine schlagzeilenträchtige Organisation. Und einige der Protagonisten hegen und pflegen das Image. Hans-Joachim Watzke ist dabei manchmal nicht nur ein Meister des Timings. Der Termin seiner autobiografischen Liebeserklärung an die BVB-Adresse fiel mit einer mittleren Herbstdepression der Fussball-Abteilung zusammen. Das öffentliche Schwelgen an der Seite der früheren Lichtgestalt Jürgen Klopp legten mehr als ein paar kritische Journalisten als Blossstellung Favres aus und zählten den Schweizer an.
Watzke kennt die medialen Mechanismen in angespannten Lagen. Der smarte und ausgeglichene Klubchef handelt selten nach dem Zufallsprinzip. Dass seine Charme-Offensive im Kontext mit dem Ex-Meister Klopp Fragen aufwerfen würde, kann niemanden im BVB-Machtzirkel überrascht haben. Der aktuelle Entscheidungsträger an der Linie stand während Tagen zur Debatte. Jeder halbwegs ambitionierte Leitartikelverfasser fühlte sich bemüssigt, über die Zukunft Favres zu spekulieren.
«Favre ist kein Typ wie Klopp»
Im Boulevard entwarfen sie eigentliche Psychogramme für den Trainer, die Umfragewerte des Trainers sackten nicht nur bei den «BILD»-Lesern markant ab. Die auch im Erfolgsfall nie ausufernde Haltung des Schweizers wurde angezweifelt. Ihm fehle im brodelnden Pott das Feuer; keine Mimik, keine Gestik, keine Entschlossenheit sei erkennbar – auf der Liste der Vorwürfe fehlte kein Klischee. Und nach dem torlosen Remis in Gelsenkirchen kam der früheren Schalke-Galionsfigur Olaf Thon Bahnbrechendes in den Sinn: «Favre ist kein Typ wie Klopp. Da braucht man einen, der Gas gibt, der Leute mitnimmt.“
Dabei ist Klopp nachweislich Geschichte und in schwarz-gelben Büchern verewigt. Seit seiner Verabschiedung vor über vier Jahren, die BVB-Ikone schloss seine letzte Saison bloss als Siebter ab, gab es einige Dissonanzen und Missverständnisse. Unter Thomas Tuchel kühlte sich das Betriebsklima ab, Peter Bosz tanzte mit dem Ensemble ins Aus, und Peter Stöger etablierte im Stadion der Eruptionen den nüchternen Beamten-Fussball. Erst seit der Ankunft Favres ist Dortmund im zweiten Jahr in Folge ein seriöser Meisterkandidat.
Seit Anfang Mai hat die Borussia in Deutschland nur ein einziges Spiel verloren. Und dennoch kam rund um den Bundesliga-Spitzenklub Unruhe auf. Die Zuschauer ärgerten sich über eine angeblich zu ängstliche Haltung, die Kommentatoren unterstellten dem Chef an der Linie, keine klare Ansprache zu beherrschen, zu zögerlich zu sein, partout kein klares Meister-Commitment abgeben zu wollen. Die «Süddeutsche» hielt ihm vor, «Handbremsen-Fussball» zu predigen. Im ZDF lächelte der Westschweizer einen ähnlichen Vorwurf weg: «Finden Sie?»
Wie gross die Streuung in der Wahrnehmung des Dortmunder Fussball-Strategen sind, verdeutlichen die nackten Zahlen. In der Liga coachte Favre die Equipe in knapp eineinhalb Jahren im Schnitt zu 2,36 Treffern und 2,16 Punkten. Mit scharfem Blick auf das grosse Bild seiner Laufbahn käme selbst unter den Pessimisten keiner auf die Idee, ihm einen destruktiven und ängstlichen Game-Plan vorzuhalten. In Genf, Zürich, Berlin, Mönchengladbach und Nizza verwöhnten Favres Auswahlen das Publikum mehrheitlich mit Spass-Fussball.
Hitzfeld: «Sein Fussball ist attraktiv»
Einer der wichtigsten und besten Trainer der Bundesliga-Geschichte verfolgt Favres Weg seit längerer Zeit intensiv: Ottmar Hitzfeld, zweifacher Champions-League-Sieger und siebenfacher Meister-Trainer in Deutschland. Der 70-Jährige hält viel von Favre: «Er arbeitet sehr erfolgreich in Dortmund und hat der Mannschaft ein gutes Konzept vermittelt. Zu seinen Stärken gehört, die Spieler zur Entfaltung kommen zu lassen, sie nicht in ein enges Korsett zu drängen. Sein Fussball ist attraktiv.“
Der frühere Welt-Trainer kennt die ab und an unübersichtlichen Verhältnisse im Ruhrpott. Zwischen 1991 und 1997 war er selber Frontmann des brodelnden Klubs. Ich weiss aus eigener Erfahrung, wie hart die Presse zur Sache gehen kann. In Dortmund herrscht schnell einmal Aufregung. Dass sie immer wieder Köpfe fordert, gehört halt einfach zum Bundesliga-Alltag.»
Favre sei keiner, der öffentlich auf den Tisch haue und das Team wachrüttle, so Hitzfeld. «Lucien ist ein Stratege. So war er schon als Spieler, ein filigraner Techniker.» Für den Ex-Bayern-Coach sind die Zweifel unbegründet: «Er wird langfristig Trainer sein in Dortmund.»
Im BVB-Trainerbüro an der Adi-Preissler-Allee konzentriert sich der Hauptdarsteller bis spätabends auf das Wesentliche. Ihm fehlt die Zeit, weiter auf äussere Strömungen zu reagieren – zumal er der extremen Spannweite der Instant-Einschätzungen ohnehin wenig abgewinnen kann. Lieber befasst er sich im persönlichen Debriefing mit einer meisterlichen Wende wie am Dienstagabend gegen Inter (3:2-Sieg nach einem 0:2-Rückstand) und heckt einen nächsten Masterplan aus: die Dechiffierung des angeschlagenen FC Bayern München im Giganten-Duell am Samstag.