Rückblick «Das Wunder von Uerdingen» – so viel mehr als ein Fussballspiel

Von Patrick Lämmle

19.3.2020

19. März 1986, Europapokal, Bayer Uerdingen gegen Dynamo Dresden. Es ist eines der verrücktesten Fussballspiele der Geschichte. «Ein Wunder, das zum Politthriller wurde», titelte 2007 die «Frankfurter Allgemeine» als der Film dazu ins Fernsehen kam.

«Das Wunder von Bern» dürfte hierzulande vielen besser bekannt sein als «Das Fussballwunder von Uerdingen». Die Geschichte ist aber nicht minder interessant, im Gegenteil. Heute vor 34 Jahren wurde auf dem Rasen des Krefelder Grotenburg-Stadions ein bis heute unvergessenes Kapitel Fussballgeschichte geschrieben.

Bayer Uerdingen hatte das Viertelfinal-Hinspiel im Europapokal der Pokalsieger gegen Dynamo Dresden 0:2 verloren und lag im Rückspiel zur Pause mit 1:3 zurück. Zahlreiche Fans hatten das Stadion bereits verlassen, sie wollten der sich abzeichnenden Schmach nicht beiwohnen. Sechs Tore bräuchten die Uerdinger in der zweiten Halbzeit, um weiterzukommen. Ein Ding der Unmöglichkeit. So schien es. Doch der Osten erlebte im Westen nach dem Pausentee einen Untergang, der seinesgleichen sucht.

Beim ZDF waren im Verlaufe der ersten Halbzeit bereits zahlreiche Beschwerden von verärgerten Zuschauern eingegangen. Sie konnten nicht verstehen, dass der Sender nicht das gleichzeitig stattfindende Spiel der Bayern gegen RSC Anderlecht um den Einzug ins Halbfinale des Landesmeistercups zeigte. Doch der Sender hatte sich nun mal entschieden, das Duell Ost gegen West zu zeigen – erstmals überhaupt wurde ein Spiel aus der Krefelder Grotenburg-Kampfbahn live im Fernsehen übertragen. Wie sich später herausstellen sollte, ein absolut richtiger Entscheid. Denn die Zuschauer wurden Zeugen einer der verrücktesten Aufholjagden überhaupt.

Eine Aufholjagd, begünstigt auch durch die zweifelhaften Entscheidungen des ungarischen Schiedsrichters Nemeth und durch die Verletzung von Dresdens Stammtorhüter Bernd Jakubowski. Nach einem Zusammenprall verletzte er sich so schwer, dass er nach der Pause nicht mehr weiterspielen konnte. Ja, der Schulterbruch besiegelte gar sein Karriereende. Für ihn kam der 22-jährige Jens Ramme ins Tor, der noch kein einziges Pflichtspiel für Dynamo bestritten hatte. Viele sollten auch nicht mehr hinzukommen, denn manche sahen in ihm den grossen Sündenbock. Ramme erhielt später gar Morddrohungen, auch das eine der vielen Randgeschichten, die dieses Spiel hervorbrachte.

Irre Wende und ein Spieler, der die Flucht ergreift

In der 58. Minute erzielte Uerdingen per Elfmeter den Anschlusstreffer zum 2:3. An die Wende glaubte da noch niemand. Doch sieben Minuten später stand es nach einem umstrittenen Treffer bereits 4:3. 21 Minuten später 6:3. Nun erst wachten die Dresdner auf und drückten ihrerseits aufs gegnerische Tor, doch Uerdingens Torwart vereitelte in einer Minute drei Grosschancen und so stand die Partie weiter auf der Kippe.

In der 87. Minute der ganz grosse Moment. Ein Verteidiger von Uerdingen köpft den Ball nach einer Ecke aus der Gefahrenzone. Mehr noch, der Ball wird zur Steilvorlage für Teamkollege Wolf­gang Schäfer, der einen Sprint über achtzig Meter hinlegt, um dann mit allerletzter Kraft abzuschliessen. Ramme wehrt den Schuss ab, doch der Abpraller landet genau auf der Brust von Schäfer, der nur noch ins leere Tor einzuschieben braucht. Von den inzwischen längst wieder gut gefüllten Zuschauerrängen tönt es «Zugabe, Zugabe». Kurz darauf wird das Spiel abgepfiffen, das Wunder ist vollbracht.

Die Geschichte ist damit aber eigentlich noch lange nicht fertig erzählt, denn die grossartige Aufholjagd ist nur ein Teil, der die Faszination dieses Krimis ausmacht. So ist etwa Dresdens Stürmer und erfolgreichster Europapokal-Torschütze Frank Lippman nach dem Spiel durch die Tiefgarage des Mannschaftshotels in den Westen geflohen. Ausgerechnet er, der vom Trainer aufgrund diverser Disziplinlosigkeiten eigentlich gar nicht aufgeboten worden wäre, hätte sich nicht die Stasi eingemischt und die Nominierung befohlen. Wie bereits erwähnt, es gäbe noch viel mehr zu erzählen …


In dem Buch «Die 100 besten Spiele aller Zeiten» (Tim Jür­gens & Philipp Köster) belegt das Spiel übrigens den ersten Platz.


Das Spiel in voller Länge:

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