Lando Norris steht in Sotschi kurz vor seinem ersten Formel-1-Sieg der Karriere, als er brutal zurück auf den Boden der Realität geholt wird. Der Publikumsliebling beweist aber auch in seiner bisher bittersten Stunde Grösse.
Lando Norris verblüfft die Formel 1 am vergangenen Renn-Wochenende in Sotschi einmal mehr. Erst holt sich der britische Publikumsliebling völlig überraschend zum ersten Mal in seiner Laufbahn die Poleposition, im Rennen kann er seine Spitzenposition dann behaupten und steht kurz vor seinem ersten Triumph der Karriere in der Königsklasse des Motorsports – bevor alles den Bach runtergeht.
Denn Petrus scheint dem 21-Jährigen den Sprung aufs oberste Treppchen an diesem Tag (noch) nicht zu gönnen. Wobei: Der rangmässige Absturz von Norris in der Schlussphase des Rennens hat viel mehr mit einer eigenen Fehlentscheidung zu tun, als mit dem einsetzenden Regen, der rund sieben Runden vor Rennschluss immer stärker vom russischen Himmel fällt und für ein taktisches Katz- und Mausspiel sorgt.
Eine folgenschwere Fehlentscheidung
Viele Teams entscheiden sich trotz fortgeschrittener Renndauer für einen weiteren Boxenstopp und einen Wechsel auf Regen-Reifen. Das Duo an der Spitze, Norris und Hamilton, wehrt sich allerdings vehement gegen ein solches Vorhaben. Norris weist sein Team über Funk gar an, «die Klappe zu halten», als dieser von wegrutschenden Konkurrenten berichtet. Während Norris bei seinem Entschluss bleibt und sein Auto mit profillosen Reifen ins Ziel retten will, entscheidet sich Hamilton vier Runden vor Schluss doch noch für eine Umstellung. Es ist gleichzeitig die Entscheidung in diesem Rennen.
Norris dämmert es zu spät. Erst als er die Strecke trotz beinahe Schritttempo bereits mehrmals verlassen hat und Hamilton vorbeiziehen lassen muss, kommt die Einsicht: «Verdammt. Es ist so nass, Jungs. Ich muss an die Box, ich schaffe das nicht.» Der Zug ist da aber bereits abgefahren, der zu späte Wechsel resultiert für den bemitleidenswerten Norris in einem Absturz auf den siebten Rang. Die Enttäuschung ist riesig.
«Wir haben die Info nicht richtig bekommen oder richtig verarbeitet, und die anderen haben einen besseren Job gemacht», sagt Norris nach dem Rennen niedergeschlagen. McLaren-Teamchef Andreas Seidl nimmt seinen Fahrer aber in Schutz. Die Schuld für den taktischen Fehler liege nicht allein bei ihm. «Wir haben uns verzockt, zusammen mit Lando. Wir waren überzeugt, dass mit unserer Prognose noch eine Runde möglich war. Das ist nicht aufgegangen», so Seidl.
Schliesslich hätte das Team seinen unerfahrenen Schützling überstimmen können oder gar müssen – ähnlich wie es Mercedes bei Lewis Hamilton tat. Man müsse daraus lernen und solche Ansagen klarer vornehmen, verlangt Seidl und fügt an, Norris wäre sicher an die Box gekommen, hätte man ihn unmissverständlich reinbeordert.
«Der schlimmste Albtraum»
Lewis Hamilton, der in Sotschi dank des Fauxpas der Konkurrenz zu seinem 100. GP-Sieg fährt, zeigt nach dem Rennen denn auch Mitgefühl für seinen Landsmann: «Bittersüss. Lando hat einen so tollen Job gemacht und war unglaublich schnell», so der siebenfache Weltmeister. Er fügt an: «Lando ist noch so jung. Er hat noch viele Rennen vor sich, die er gewinnen wird.»
Nicht nur von Hamilton erhält Norris Trost, zahlreiche Fahrer versuchen das grosse Talent aufzumuntern. «Es ist der schlimmste Albtraum für einen Rennfahrer, ein Rennen anzuführen und dann Regen auf dem Visier zu sehen», sagt etwa Williams-Pilot Georg Russel. «Ob du draussen bleibst oder reinkommst, du bist der Depp. Du kannst eigentlich nur verlieren.»
Das Rennen um den Sieg hat Norris zwar verloren, die Herzen der Fans dagegen gewonnen. Denn neben seiner herausragenden Leistung auf der Strecke beweist der junge McLaren-Pilot auch daneben enorme Grösse, als er Hamilton mit einer herzlichen Umarmung zum Sieg gratuliert und wenig später bereits wieder mit dem neuen WM-Leader lachen kann. Der nächste Beweis dafür, dass ein neuer Champion heranwächst.