Es geht um Gold oder Silber, und Chiara Leone gibt mit 10,8 Punkten ihren besten Schuss des ganzen Wettkampfs ab. Die Frau ist gemacht für die Psyche des Schusses.
«Ich kann unter Druck noch eine Schippe drauf legen. Ich bin der Wettkampf-Typ. Ich finde dort den Extra-Gang», sagt Chiara Leone vor ihrer Abreise nach Paris im Leistungszentrum Biel. Mit diesen Worten blickt sie auf das EM-Gold im Mai in Osijek in Kroatien zurück.
Und mit eben diesen Eigenschaften krönt sich die Europameisterin nun auch zur Olympiasiegerin in der Königsdisziplin, dem Dreistellungsmatch mit der Kleinkaliber-Waffe. Bei dem einen Schuss, der ihre ganze Karriere prägen wird, trifft sie in die Mitte. In den 15 Schuss kniend erreicht sie gar nie die 10,8, in den 15 Schuss liegend zweimal und bei 15 Schuss stehend nur dieses eine Mal. Sie überbietet das Resultat von Nina Christen in Tokio damit um 0,5 Punkte – das Resultat lässt sich vergleichen, weil im Final im Gegensatz zur Qualifikation in einer 50-m-Halle geschossen wird.
Kein Talent auf Anhieb
Wesentlich Anteil am Olympia-Gold hat der Trainer Enrico Friedemann. Der Deutsche trainiert die Schützin aus dem Fricktal seit 2018 und sagt offen: «Als sie als Juniorin um die Ecke kam, hätte ich nicht gedacht, dass sie eine derartige Entwicklung durchmacht.» Aber sie habe einen riesigen Aufwand betrieben. Und sie habe ihren Willen auch mental umgesetzt. «95 Prozent entscheidet sich im Schiessen im Kopf», betont der Trainer. «Gemessen am Niveau können sich in Paris 25 Schützinnen durchsetzen. Aber den Kopf am Tag X haben, das zählt».
Die 26-Jährige meint zu Friedemanns Anspielung auf die Jahre als Juniorin: «Ich war nie von Anfang an die Beste. Ich musste mir alles erarbeiten.» Beim Olympiasieg von Nina Christen vor drei Jahren sei sie noch nicht so weit gewesen, um mit den Besten mitzuhalten.
Mit ihrem Fleiss wählte Chiara Leone die richtige Sportart aus. Im Schiessen braucht es nicht genetisch bestimmte Voraussetzungen wie schnelle Muskelfasern für den Sprint, die Körpergrösse als Volleyballerin oder die geographische Nähe zum Schnee als Skifahrerin. Schiessen kann man bis hin zum Weltklasse-Niveau lernen. Mit welchen Eigenschaften? «Durchhaltewillen», sagt Chiara Leone.
Die Olympiasiegerin stammt aus einer Schützenfamilie und fand via Elternhaus und J+S-Kurse den Weg zum Präzisionssport. Nach der Matura in Aarau verlegte sie ihren Lebensmittelpunkt nach Biel, wo sie lebt und trainiert. Sie wirke, so hört man von dort, ruhig, eher zurückgezogen, etwas scheu, sehr stark fokussiert.
Extrem-Situation schon im Mai
Im Leistungszentrum konnte sich Chiara Leone in einem der stärksten Teams weltweit entwickeln. Denn neben Nina Christen machte auch die erst 15-jährige Solothurnerin Emely Jäggi Druck. Um die Olympia-Tickets entbrannte ein Dreikampf, der selbst Nina Christen hart forderte. Allein Chiara Leones Weg nach Paris war einer Olympiasiegerin würdig. Nur das EM-Gold in Kroatien brachte sie nach Paris, weil Emely Jäggi im gleichen Wettkampf Bronze holte. Bereits im April also setzte Chiara Leone in einer Extrem-Situation die wegweisenden Treffer. Der Olympia-Final war von der Psyche des Schusses ein Déjà-vu.