Das Festhalten an der Durchführung der Olympischen Sommerspiele in Tokio ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr sich die Werte der gigantischen Veranstaltung verschoben haben.
In Japan, einem Land des Lächelns, ist sehr vielen Leuten das Lachen vergangen. Die Vorfreude auf die zweiten Olympischen Sommerspiele in Tokio nach jenen von 1964 ist längst den Sorgen um die Gesundheit in Zeiten der Corona-Pandemie gewichen. Gemäss Umfragen haben sich je nach Stadt und Region zwischen 50 und 80 Prozent der Bevölkerung für eine Absage der Veranstaltung ausgesprochen.
Das Internationale Olympische Komitee (IOC) und die örtlichen Organisatoren kümmert der vom Volk initiierte Gegenwind wenig. Japans Spitzenpolitiker nehmen in Kauf, dass die Diskrepanz zwischen der öffentlichen Meinung und dem Willen der Regierung so gross ist wie nie zuvor.
Der bestimmende Kommerz
Für den IOC-Präsidenten Thomas Bach und sein Gefolge zählen andere Werte. Daran ändert auch der vor kurzem gefällte Entscheid nichts, die Wettkämpfe in Tokio ohne Zuschauer abzuhalten. Im Glauben an das Gute haben Gedanken an Virus-Varianten und Inzidenz lediglich einen beschränkten Platz. Ihre Unempfindlichkeit gegen Warnungen und Meinungen von epidemiologischer Seite scheint ihnen in keiner Weise peinlich. Daran ändert auch die enge Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation WHO nichts.
Das Denken der Verantwortlichen ist vorab geprägt vom Kommerz, von der Sorge um die finanziellen Auswirkungen einer Annullierung der um ein Jahr verschobenen Spiele. Mit dem Festhalten an der Durchführung des Mega-Events hat das IOC das Schreckgespenst in Form von fehlenden Milliarden-Einnahmen vertrieben.
Aktuelle Zahlen sind noch nicht bekannt. Die Dimension zeigen die nach den Sommerspielen vor fünf Jahren in Rio de Janeiro veröffentlichten Summen. Umgerechnet 6,1 Milliarden Franken sind damals in die Kassen des IOC geflossen, rund drei Viertel davon haben Fernsehstationen für die Übertragungsrechte beigesteuert. Japan seinerseits wäre im Fall einer Absage gemäss Schätzungen von Ökonomen ein Schaden in Höhe von rund 10 Milliarden Franken entstanden.
Die andere Chance
Die Überlegungen von Japans Politikern und Wirtschaftsführern zielen nicht nur auf die Verhinderung eines finanziellen Desasters. Das Festhalten an den Spielen betrachten sie auch als Chance, ihr Land im besten Licht zu präsentieren. Sie sind beseelt von der Vorstellung, Japans Fähigkeit zu demonstrieren, einen Anlass gigantischen Ausmasses selbst unter schwierigsten Bedingungen ohne nennenswerte Probleme durchzuführen, die enorme Herausforderung in Zeiten der Pandemie zu meistern. Den Einwand, dass es noch zu früh ist, um mit den Olympischen Spielen den Sieg über das Coronavirus zu feiern, übersehen sie in ihrer heiklen Mission grosszügig.
Auch der Wunsch der Olympia-Macher, ab Beginn der Wettkämpfe möge sich das Interesse weg von den Nebenschauplätzen auf das Sportliche verlagern, dürfte kaum in Erfüllung gehen. Allein die leeren Zuschauer-Tribünen werden die Spiele bis zu ihrem Abschluss am zweiten August-Sonntag als Mahnmale begleiten, dass in Tokio ein Anlass stattfindet, der sich auf einem ganz schmalen Grat zwischen Zustimmung und Unvernunft bewegt.
Zustimmung herrscht im Kreis der Athletinnen und Athleten vor. Für sie kommt endlich die Zeit, in der das lange Warten und die um ein Jahr ausgedehnte Vorbereitungsphase enden – strenges Protokoll hin, stark eingeschränkte Freiheiten an den zu einem sterilen Fernseh-Schauspiel verkommenen Spielen her.
Die Sportlerinnen und Sportler haben mit dem Entscheid zur Teilnahme ihr Einverständnis zu den aussergewöhnlichen Umständen gegeben. Sie wollen den olympischen Geist nach Tokio tragen. Die getrübte Stimmung und Skepsis sollen während den zwei Olympia-Wochen verbannt werden. In Japan soll das Lachen zurück sein.