«Road to Tokyo» Hängepartie, Jubelverbot und ein Horrorszenario – aber Heinzers Olympia-Traum lebt

Von Richard Stoffel

20.5.2021

Spektakelfechter Max Heinzer befindet sich knapp zweieinhalb Monate vor Olympia-Beginn in der Hochtrainingsphase und gleichzeitig auch mitten im Impfplan. Die Endphase des Countdowns für die Spiele in der «Corona-Blase» von Tokio läuft.

Von Richard Stoffel

20.5.2021

Letzte Woche erfolgte für den Degenspezialisten die erste Impfung. Die entsprechende «Ruhigstellung» am Folgetag ist im Trainingsplan berücksichtigt. Auch nach der zweiten Impfung in drei Wochen, die mit mehr Nebenwirkungen verbunden sein könnte, wird der 33-jährige Zentralschweizer mindestens einen trainingsfreien Tag gefolgt von einem lockeren Tag einschalten.

Der nur 1,78 m grosse Heinzer ist den meisten Gegnern von der Physis her unterlegen. Es ist eine Mischung aus Athletik und Akrobatik, mit der Heinzer seine Gegner im Klingenspiel serienweise aussticht. Mit hoher Intensität, einer imponierenden Sprungkraft und feinem Gespür für die Absicht des Gegners kompensiert er theoretische Reichweitennachteile. «Er hat die Respekt­losigkeit oder besser gesagt den Mut, im richtigen Moment zu gehen. So gewinnt er oft auch enge Gefechte», sagt Daniel Giger, der in den Siebzigerjahren zweifacher Olympia-Medaillengewinner mit dem Schweizer Degen-Team war.

«Road to Tokyo» – die Serie von blue Sport
Die Olympischen Sommerspiele sollen vom 23. Juli bis zum 8. August 2021 in Tokio stattfinden.

Für viele Sportlerinnen und Sportler bilden die Olympischen Spiele den Höhepunkt der Karriere. Während etwa die weltbesten Tennisspieler und Fussballer permanent im Rampenlicht stehen, bietet sich vielen Athletinnen und Athleten nur alle vier Jahre die Gelegenheit, sich der breiten Masse zu präsentieren. Im Rahmen der Serie «Road to Tokyo» besucht «blue Sport» Fechter, Ringer oder Karate-Kämpferinnen und wirft einen Blick hinter die Kulissen in einer Zeit, in der so vieles ungewiss ist. So auch die Frage, ob die Spiele letztlich überhaupt stattfinden.

Heinzers «Luftangriff»

Heinzer brachte sich schon als Elfjähriger selbst einen Spezialtreffer bei, der seinesgleichen sucht. Was der verstorbene Andy Hug der Kampfsport-Welt als «Andy-Kick» (vertikaler Fusstritt über den Kopf oder Schulter des Gegners) hinterlassen hat, das kreierte Heinzer für sein umfangreiches Angriffsrepertoire.

Beim sogenannten «Heinzer special» rennt er auf den Gegner zu, spediert dessen Klinge weg, sobald der Gegner zuzustechen versucht. Und hebt mit einem Luftsprung ab, um den ins Leere laufenden Kontrahenten auf dem Rücken zu treffen. Mehr Augenmassage für die Galerie geht nicht. Diesen «Luftangriff» von Heinzer dokumentierte die NZZ einst auch mit Skizzen im Zeitraffer-Format. Kein Wunder, dass der Schweizer «Stuntman der Degenführung» schon seit Jahren bei einem «abhebenden» Getränkehersteller unter Vertrag steht.

Wenn Max Heinzer antritt, ist Spektakel garantiert.
Wenn Max Heinzer antritt, ist Spektakel garantiert.
Bild: Keystone

Reflexe, Instinkt und Taktik sind die Basis, die ein solches Spektakel erst ermöglichen. Und konsequente Entscheide. «Ein Moment des Zögerns nutzt der Gegner zumeist zu einem Kontertreffer. Generell gilt es, einen Grundplan zu haben. Aber wenn man nicht flexibel bleibt, kann es auch negativ herauskommen», sagt Heinzer zu «blue Sport».

Deshalb geht Heinzer in der Trainingsmethodik immer mal wieder unorthodoxe und innovative Wege. Er postete in den sozialen Medien beispielsweise eindrucksvoll gemeisterte Hindernisparcours und machte dabei schon fast dem Überakrobaten und Top-Freestyler Andri Ragettli Konkurrenz.

Puckschuss-Maschine zur Reflexschulung

Bei seinem neuesten Trainingsreiz liess er sich vom Eishockey inspirieren. Er nutzte an seinem aktuellen Haupt-Trainingsort, dem hochmodernen Athletikzentrum in Cham, die Puckschuss-Maschine fürs Torhüter-Training des EV Zug, um seine Reflexe neu zu fordern. Dabei steht ihm mit dem einen oder anderen Ratschlag natürlich auch EVZ-Meister-Goalie Leonardo Genoni zur Seite. Mit dem überragenden Schweizer Eishockey-Keeper der letzten Jahre geht Heinzer jeweils montags Badminton spielen.

Insgesamt versucht Heinzer, aktuell noch gezieltere, hochintensive Akzente zu setzen, vorab im Kraftbereich. «In den nächsten Wochen gilt es noch, die Balance zu finden, zwischen dem maximalen Trainingsreiz und der optimalen Erholung.» Abstand vom Sport findet er im Kreise seiner eigenen Familie (Frau Janique, Sohn Mael/3, Tochter Mahina/9 Monate) oder beim Fischen. Doch aktuell ist Heinzers Fokus vor allem auf Tokio gerichtet und seine beiden Einsatztage, am 25. Juli im Einzel und am 30. Juli mit dem Team.

Emotional: Heinzer bejubelt einen Treffer.
Emotional: Heinzer bejubelt einen Treffer.
Bild: Keystone

Heinzer hat sich in seiner Karriere schon annähernd eineinhalb Dutzend Medaillen im Einzel und Team an EM und WM erkämpft. Der zehnfache Triumphator von Einzel-Weltcupturnieren würde mit Edelmetall bei Olympia sein bereits eindrucksvolles Palmarès veredeln. Bei der dritten Teilnahme soll es nun klappen. Bei den ersten zwei Olympia-Starts scheiterte Heinzer im Einzel jeweils an den nachmaligen Goldgewinnern aus Venezuela beziehungsweise Südkorea. In Rio war Heinzer immerhin schon zweifacher Diplomgewinner – mit dem Team und im Einzel.

Nur ein Wettkampf in 16 Monaten

Die Olympia-Vorfreude ist für Heinzer wegen Corona indes nicht mit Rio 2016 oder London 2012 zu vergleichen. «Doch ich hoffe sehr, dass die Spiele stattfinden können. Auch wenn es für uns Fechter mit nur einem Wettkampf vorher in den letzten 16 Monaten eine ganz spezielle Situation sein wird», betont Heinzer. Wettkampf-Videostudien der Gegner sind natürlich längst überholt.


«Ein positiver Test vor Ort wäre ein Albtraum.»

Olympia bleibt eine Hängepartie – auch für Max Heinzer.


«Das Favoritenfeld wird breiter sein. Die Weltrangliste ist nicht mehr so aussagekräftig. Es sind sicher neue, aufstrebende Fechter dabei, die man vielleicht noch nicht so ganz auf der Rechnung hatte», sagt Heinzer, der von seinem Nationaltrainer Didier Ollagnon als «Hausadresse» aber dem ersten Kreis der Medaillenanwärter zugeordnet wird.

Betrüblich ist indes, dass auf der Planche wegen Corona-Übertragungsgefahr über die Aerosole das Jubeln laut Reglement nicht erlaubt ist. Eine verordnete Unterdrückung der Emotionen. Auch für Heinzer eigentlich ein Unding. Denn seine Gefühlsausbrüche nach einem umkämpften Punktgewinn sprühen vor kraftvoller Vitalität. Selbst wenn da auch ab und an taktisches Kalkül dahinter steckt. Beim letzten Weltcup in Russland hielt sich Heinzer wie gefordert zurück, faktisch wurde es bei anderen Fechtern von Unparteiischen indes kaum geahndet oder gar ignoriert.

Schweizer Team mit imponierender WM-Bilanz

Im Teamwettkampf werden die Schweizer in Tokio mit Teamleader Heinzer im Viertelfinal gegen Südkorea antreten müssen, das als Nummer 5 unmittelbar hinter der Schweiz gesetzt ist. Zuletzt hatten die Schweizer in Russland gegen Südkorea den Kürzeren gezogen.

Für die Schweizer spricht ihre WM-Konstanz: An den fünf aufeinanderfolgenden letzten Weltmeisterschaften hatten sie immer eine Medaille gewinnen können, darunter der Höhepunkt 2018 mit dem ersten Mannschafts-WM-Titelgewinn der Schweizer Fechtgeschichte.

Neben Leader Heinzer gilt für Tokio einzig Team-Routinier Benjamin Steffen gesetzt. Der Olympia-Vierte von Rio 2016 muss allerdings noch Verletzungsprobleme überwinden. Um den dritten Platz im Team und für die Einzelkonkurrenz balgen sich Stand heute drei Fechter: Michele NIggeler, Lucas Malcotti und Alexis Bayard.

Kämpft gegen die Zeit: Benjamin Steffen, Olympia-Vierter von Rio 2016.
Kämpft gegen die Zeit: Benjamin Steffen, Olympia-Vierter von Rio 2016.
Bild: Keystone

Noch nicht abschliessend geklärt ist die Logistik für das Schweizer Team. Heinzer: «Es ist offen, ob wir genau neben der Fechthalle im Hotel übernachten werden, was lange im Voraus geplant war. Nun sieht es so aus, dass wir unsere täglichen Corona-Tests im Olympischen Dorf absolvieren müssen. Das wäre eine umständliche Fahrt vom Hotel aus, die wir wohl vermeiden werden. Deshalb kann es sein, dass wir jeweils nur kurz vorm Wettkampf im nahe gelegenen Hotel übernachten.»

Die Olympia-Starterlaubnis jedes einzelnen Athleten wird in Tokio bis und mit dem letzten Vorwettkampf-Corona-Test eine Hängepartie bleiben. Trotz Impfung besteht auch für Heinzer bis zum Schluss die Gefahr, positiv getestet zu werden. «Das wäre wirklich ein Albtraum, ein positiver Test vor Ort und dann nicht antreten zu dürfen. Doch darüber will ich mir keine weiteren Gedanken machen.»